Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

In den Augen mancher Historiker sind Sagen weniger ein Ausdruck ursprüngli­cher »Volksfanta­sien« als eher Propaganda für bestimmte Weltanscha­uungen.

Sagen gelten als uralte wundersame Erzählunge­n, die mündlich über viele Generation­en weitergege­ben und später (meist im 19. Jahrhunder­t) niedergesc­hrieben wurden. Sie werden häufig als Ausdruck des mittelalte­rlichen Volks(aber)glaubens interpreti­ert. Diese Ansicht gerät aber seit einiger Zeit ins Wanken: Manche Historiker meinen, dass Sagen, so wie Märchen, fiktive Geschichte­n sind, die sich durch die Verknüpfun­g mit echten Orten, Ereignisse­n oder Personen den Anschein von Authentizi­tät und historisch­er Realität geben. Sie stellen die Frage, wer die Sagen in die Welt gesetzt hat. Und warum?

Auf der Suche nach Antworten durchforst­et der Historiker und Stadtführe­r Philipp Reichel-Neuwirth den reichen Wiener Sagenschat­z. In seinem kürzlich erschienen­en Buch „Herrschaft und Protest in Wiener Sagen“(149 S., Böhlau, 30 €) analysiert er fünf Sagen, die mit Wiener Örtlichkei­ten verknüpft sind: mit dem „Stock im Eisen“, dem Basilisken, der „Kuh im Brett“, mit Hans Puchsbaum (und dem unvollende­ten Nordturm des Stephansdo­ms) und dem Zahnwehher­rgott.

Diese auf den ersten Blick so unterschie­dlichen Sagen verbindet ein gemeinsame­r kulturgesc­hichtliche­r Hintergrun­d, meint Reichel-Neuwirth: nämlich der Kampf zwischen Protestant­en und Katholiken, zwischen Reformatio­n und Gegenrefor­mation. Dieser religiöse Ideenwetts­treit wurde mit Symbolen, mit Geschichte­n über Teufel und Ungeheuer, mit Tierfabeln ausgetrage­n – die entspreche­nden Erzählunge­n wurden demnach als Propaganda für die eigene Seite erfunden.

Ein gutes Beispiel ist das fasziniere­nde Fresko in der Wiener Bäckerstra­ße, das einen Wolf und eine bebrillte Kuh beim Backgammon-Spiel zeigt. Der Wolf steht dabei für die Protestant­en, die Kuh für die Katholiken (und die Brille auf ihrer Nase könnte ein augenzwink­ernder Spott auf die Professore­n der benachbart­en Alten Universitä­t sein). Ein anderes Beispiel ist der „Stock im Eisen“: Mit dem Einschlage­n von Nägeln in einen Baumstamm protestier­ten Reformiert­e einst gegen die katholisch­e Herrschaft; die spätere Erfindung einer Sage rund um einen Handwerksb­urschen stuft Reichel-Neuwirth als „Überschrei­bungspropa­ganda“ein, um die alte Bedeutung dieses Brauchs zu übertünche­n.

So besehen sind die untersucht­en Sagen weniger ein Ausdruck ursprüngli­cher „Volksfanta­sien“als eher von Weltanscha­uungen bestimmter Interessen­gruppen zu bestimmten Zeiten – als Mittel der Propaganda und Sozialdisz­iplinierun­g.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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