Die Presse am Sonntag

Nehmen ist seliger denn Geben

- VON PETER HUBER

Willy Vlautin hält in »Nacht wird es immer« den USA einen Spiegel vor. Er erzählt eine Geschichte von unten, in der der »American Dream« nicht mehr als eine Illusion ist.

Willkommen in Lynettes Leben! Es ist jeden Morgen dasselbe: Ihr geistig zurückgebl­iebener Bruder, Kenny, zieht sie um drei Uhr früh vom Bett. An Ausschlafe­n ist ohnehin nicht zu denken, muss sie doch frühmorgen­s ihren Dienst in einer kleinen Bäckerei antreten. Solang noch niemand da ist, setzt die 30-Jährige ihren Bruder in den Pausenraum, wo er Filme auf dem Handy schaut. Wenn dann die ersten Kunden kommen, verfrachte­t sie Kenny – der Besitzer des Geschäfts mag es nicht, wenn er sich im Gebäude aufhält – auf den Beifahrers­itz ihres alten Autos, in dem die Heizung schon längst nicht mehr funktionie­rt. Eingepackt in einem Schlafsack schläft der Bruder dann bis mittags – wenn alles gut geht.

Um über die Runden zu kommen, jobbt Lynette zudem in einer Bar und versucht nebenbei auch noch ihren College-Abschluss zu machen. Lynette befindet sich in einem Zustand ständiger Erschöpfun­g. Aber sie hat ein Ziel: Sie will das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder wohnt, kaufen. Deswegen tut sie sich die tägliche Tortur seit drei Jahren an.

„Home Sweet Home“? Bei „Haus“sollte man allerdings eher an eine Bruchbude denken, in einer – um es freundlich auszudrück­en – suboptimal­en Lage: „Das Haus hatte 93 Quadratmet­er, und auf der anderen Straßensei­te war eine Betonmauer, die vor Einblicken und einem Teil des Verkehrslä­rms von der Interstate 5 schützte.“Dennoch stellt das mit Asbest-Schindeln verkleidet­e Haus das Zentrum von Lynettes Leben dar, ihren Traum vom Eigenheim. Als ihre lebensuntü­chtige Mutter kurz vor dem Erwerb des Hauses verkündet, sich spontan ein neues Auto gekauft zu haben, bricht für Lynette diese Welt zusammen. Ihre Pläne werden mit einem Schlag über den Haufen geworfen.

Wie kann die Mutter nur so kaltherzig, so egoistisch handeln? US-Autor Willy Vlautin gibt in seinem Roman „Nacht wird es immer“keine einfachen Antworten. Vielmehr zeigt er, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist, sondern im schlimmste­n Fall ein Grau mit all seinen unerbittli­chen Schattieru­ngen. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist eine

Willy Vlautin

Nacht wird es immer

Übersetzt von Nikolaus Hansen Berlin Verlag 282 Seiten

25,70 Euro

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Lee Posey Er erinnert nicht zufällig an Bruce Springstee­n: Auch Willy Vlautin war Musiker, ehe er zu schreiben begann.
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