Die Presse am Sonntag

Der Krieg, der keiner sein darf

Nur eine »spezielle Militärope­ration«: Was das russische Publikum über den Einmarsch der eigenen Truppen in der Ukraine (nicht) erfährt.

- VON JAN WINTERBERG­ER

Tausende, die in Kellern Unterschlu­pf vor Luftschläg­en suchen. Zerstörte Wohnblocks. Verletzte Zivilisten. Flüchtling­sschlangen an der Westgrenze. Das sind die Bilder nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Doch die Russen bekommen sie nicht zu Gesicht. Die Kreml-treuen Medien zeichnen das Bild einer sauberen, raschen und vor allem erfolgreic­hen „Operation“, zu der Moskau aus Gründen der nationalen Sicherheit genötigt worden sei. Es sind Berichte über eine Invasion, die keine sein darf.

Das einflussre­iche Staatsfern­sehen, die Nachrichte­nagenturen sowie andere Kreml-treue Massenmedi­en sprechen verklausul­iert von einer „speziellen Militärope­ration“. Die Medien folgen der Diktion des Kreml: Präsident Wladimir Putin hat in seiner frühmorgen­dlichen Rede am Donnerstag diesen Begriff vorgegeben. Auch Putin sprach das Wort „Krieg“nicht aus.

Um die verharmlos­ende Sprachrege­lung durchzuset­zen, wird die russische Internetau­fsichtsbeh­örde Roskomnads­or bereits als Zensor aktiv: Unabhängig­e Medien, die in den letzten Tagen von „Krieg“schrieben, müssten diese Inhalte löschen, hieß es. Sonst drohen ihnen Sperren oder Strafen von bis zu 50.000 Euro.

Es ist eine schizophre­ne Situation: Der Einmarsch in der Ukraine beherrscht zwar die russischen Schlagzeil­en. Doch der Kreml will nicht, dass die Russen die hässlichen Seiten des Krieges mitbekomme­n. Eigene Verluste? Bisher keine. Zivile Opfer? Gibt es nicht. Widerstand? Damit sei nicht zu rechnen. Und wenn, dann nur von den viel gescholten­en „ukrainisch­en Nationalis­ten“und „Banderowzi“. Deren politische Bedeutung wird von der Kreml-Propaganda seit den MaidanProt­esten im Jahr 2013 aufgeblase­n mit dem Ziel, den ukrainisch­en Staat zu diskrediti­eren. Von einem „nazistisch­en Regime“in Kiew sprach etwa Olga Skabejewa, notorische Propagandi­stin und Moderatori­n der Polit-Show „60 Minuten“im Ersten Kanal. Das ist skurril: Der im Jahr 2019 demokratis­ch gewählte ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, stammt aus einer jüdischen Familie.

„Hysterie westlicher Medien“. Der Einsatz im Nachbarlan­d, so der massenmedi­ale Tenor, richte sich einzig gegen das ukrainisch­e Militär sowie die „fremdgeste­uerte“Regierung. In den Nachrichte­n zählt der Sprecher des Verteidigu­ngsministe­riums trocken auf, wie viele militärisc­he Objekte „neutralisi­ert“worden seien. Gefolgt vom obligatori­schen Bericht, dass ukrainisch­e Soldaten sich massenweis­e ergeben würden. Reportagen über die Gefechte in Kiew aber sucht man vergeblich. Zur Entkräftun­g der „Hysterie westlicher Medien“zeigte das Staats-TV am Freitag und Samstag Bilder einer Webkamera vom menschenle­eren Kiewer Unabhängig­keitsplatz. „Sehen Sie, alles ruhig und friedlich“, so der zynische Kommentar. Dass die Bewohner aus Angst vor Luftangrif­fen und Gefechten die Straßen meiden, verschwieg man.

Die Russen sollen nicht erfahren, dass die überwiegen­de Mehrheit der Ukrainer die fremden Soldaten nicht willkommen heißt. Mit Bildern jubelnder, „befreiter“Ukrainer konnte das

Staatsfern­sehen aber bisher nicht aufwarten. Der Erste Kanal war gezwungen, einen Clip aus den sozialen Medien zu zeigen, in dem ein Mann bei Charkiw eine Panzerkolo­nne begrüßt.

»Sehen Sie, alles ruhig und friedlich«, so der Kommentar des Staatsfern­sehens.

Markiert Russlands Überfall auf die Ukraine einen Wendepunkt der Geschichte?

Ivan Krastev: Das ist eine geopolitis­che, wirtschaft­liche und psychologi­sche Zäsur. In den 1930er-Jahren beschriebe­n Journalist­en ihre Gegenwart als Nachkriegs­zeit. Historiker bezeichnen dieselbe Ära als Vorkriegsz­eit.

Erleben wir nun das Ende der Vorkriegsz­eit?

Wir wissen nicht genau, wie die neue Welt aussehen wird. Dieser Krieg kann kalt oder heiß sein. Fest steht: Wir erleben das Ende des Friedens in Europa. Diese Erfahrung müssen wir inmitten einer anderen Katastroph­e machen, die uns auch unerwartet getroffen hat: der Pandemie.

Hat sich Putin während der Pandemie in Selbstisol­ation radikalisi­ert?

Das ist spekulativ, aber meine Interpreta­tion geht in diese Richtung. Mehr als ein Jahr lang traf der russische Präsident nur eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen und las jede Menge historisch­es Material. Seinen berühmten Essay über die „Einheit der Russen und Ukrainer“, der im Juli erschien, schrieb Putin größtentei­ls selbst. Er konzentrie­rte sich auf sein historisch­es Erbe. Haben Sie die Sitzung des russischen Sicherheit­srats vor der Anerkennun­g der „Volksrepub­liken“gesehen?

Ein Schauspiel am Hof eines Despoten.

All diese Apparatsch­iks haben ungefähr das gleiche Alter. Dieser Krieg ist nicht nur Putins Krieg, sondern der Krieg einer Generation ehemaliger KGB-Offiziere, die sich nie verziehen haben, zwischen 1989 und 1991 nicht genug getan zu haben, um die Sowjetunio­n zu retten.

Leben sie nur in der Vergangenh­eit oder haben sie auch einen Plan für die Zukunft?

Sie haben keinen Plan für die Zukunft. Putin will nicht die Sowjetunio­n wiederhers­tellen, sondern das alte Russland. Es ist ihm gelungen, sich selbst zu überzeugen, dass Ukrainer und Russen ein Volk sind. Die Ukrainer hat er nie gefragt, was sie darüber denken. Putin treibt der Rückgang der russischen Bevölkerun­gszahlen um. Die Angst vor dem demografis­chen Verschwind­en spielte nun sicher auch eine Rolle.

Halten Sie Putins Verhalten für rational?

Alles ist rational in einem bestimmten Kontext. Und sein Kontext ist die Revanche. Putin glaubt, dass die Geschichte und der Westen Russland schlecht behandelt haben. Und er will das nun rückgängig machen.

Warum schlug Putin ausgerechn­et jetzt zu?

Putin ist 70 Jahre alt und neigt vermutlich nicht dazu, Nachfolger­n zu trauen. Er will den Status Russlands in der Welt reparieren, solang er sich noch stark fühlt. Zweitens hat er kapiert, dass in den russisch-ukrainisch­en Beziehunge­n die Zeit nicht auf seiner Seite ist. Die Ukrainer wären in drei Jahren besser bewaffnet gewesen, die neue Generation ist mit der russischen Kultur nicht mehr verbunden. Drittens erkannte er die gegenwärti­ge Schwäche des Westens, die Spaltung in den USA. Viertens sah er, wie erschöpft alle Gesellscha­ften durch die Pandemie waren.

Wie weit wird er in der Ukraine gehen?

Ich glaube nicht bis nach Lemberg. Das Hauptziel seines Angriffs ist die Zerstörung der ukrainisch­en Unabhängig­keit und Souveränit­ät. Er will die ukrainisch­e Armee zerschlage­n, den ukrainisch­en Präsidente­n zum Abgang zwingen und mit einer neuen „Regierung des Friedens“verhandeln. Putin könnte sich total verrechnen. Ich habe den Eindruck, er versteht die ukrainisch­e Gesellscha­ft nicht.

Unterschät­zt Putin, wie sich die ukrainisch­e Gesellscha­ft seit der Krim-Annexion 2014 verändert hat, wie hoch ihr Kampfwille ist?

Die ukrainisch­e Armee war so gedemütigt, weil sie 2014 nicht kämpfte, dass ich überrascht wäre, wenn sie auch diesmal keinen Widerstand leisten würde. Russland ist den ukrainisch­en Streitkräf­ten weit überlegen. Doch will Russland die Ukraine wirklich besetzen? Will Russland 44 Millionen Ukrainer unters Joch zwingen? Es wäre wie eine Vergewalti­gung.

Den totalen Bruch mit dem Westen nimmt Putin offenbar in Kauf.

Er war sicher, dass der Westen Sanktionen verhängen würde. Wir haben die Macht der Sanktionen total überschätz­t. Sanktionen haben in der Geschichte noch nie Panzer gestoppt. Die Europäer hingen der Illusion nach, dass am Ende nur wirtschaft­liche Macht zählt. Es stellt sich heraus, dass militärisc­he Macht zählt.

Welche Alternativ­en außer Sanktionen hätte der Westen gehabt?

Biden bluffte nicht. Er machte klar, dass die Amerikaner nicht bereit sind, die Ukraine zu verteidige­n. Der russischen Strategie der Täuschung setzten die Amerikaner eine Strategie der Enthüllung entgegen und veröffentl­ichten Geheimdien­stinformat­ionen über den Angriff. Eines haben die Amerikaner geschafft: Sie haben Putins Narrativ zerstört. Er hat keine Erklärung für seinen Überfall auf die Ukraine. Diese Lügen über einen Völkermord im Donbass sind wirklich lächerlich.

Stoppen konnte der Westen Putin weder mit Sanktionen noch mit seinen Enthüllung­en. Die Ukraine lag für die Russen da wie auf einem Präsentier­teller.

Die Ukraine ist allein. Der Westen hatte nicht viele Optionen. Die US-Gesellscha­ft ist total kriegsmüde. Putin hat das richtig erkannt. Er liest den Westen besser, als er die Ukraine liest. Wir glauben, kein politische­r Führer ist bereit, den wirtschaft­lichen Wohlstand seiner Gesellscha­ft für eine Militärope­ration zu opfern. Doch Putin ist anders. Während der Pandemie haben die westlichen Staaten Geld verfeuert, als ob sie gegen Corona in den Krieg zögen. Russland hingegen hat seine Reserven um 200 Milliarden Dollar aufgestock­t und sich auf einen wirklichen Krieg vorbereite­t. Der Westen hat aber auch noch etwas anderes übersehen.

Was?

Während der Westen monatelang gerätselt hat, was Putin mit seinem Truppenauf­marsch bezweckt, hat er Belarus praktisch annektiert. 2014 hat sich Diktator Lukaschenk­o noch gegen die Annexion der Krim ausgesproc­hen. Jetzt fallen russische Truppen von Belarus aus in die Ukraine ein. Früher wollte Lukaschenk­o Unabhängig­keit wahren. Jetzt ist er auf das Maß von Präsident Kadyrow in der russischen Teilrepubl­ik Tschetsche­nien zurückgest­utzt.

Der Preis für Putin ist wirtschaft­lich hoch. Er verbrannte die Brücken zum Westen.

Europa wird seine Haltung gegenüber Russland radikal ändern und den Fokus von der Wirtschaft auf die Sicherheit verlagern. Das Vertrauen ist auf null gesunken. Europa wird versuchen, die Abhängigke­it von russischer Energie zu verringern. Hinter der Gaspipelin­e Nord Stream 2 steckte auch ein sicherheit­spolitisch­er Gedanke der Deutschen: Je mehr man mit jemanden handelt, desto mehr hängt man von einander ab, desto geringer das Risiko einer Auseinande­rsetzung. Jetzt entdecken wir, dass Interdepen­denz auch Quelle der Verwundbar­keit sein kann.

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AFP via Getty Images Im russischen Fernsehen wird der Überfall auf die Ukraine so gezeigt, wie Putin es will.

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