Der Krieg, der keiner sein darf
Nur eine »spezielle Militäroperation«: Was das russische Publikum über den Einmarsch der eigenen Truppen in der Ukraine (nicht) erfährt.
Tausende, die in Kellern Unterschlupf vor Luftschlägen suchen. Zerstörte Wohnblocks. Verletzte Zivilisten. Flüchtlingsschlangen an der Westgrenze. Das sind die Bilder nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Doch die Russen bekommen sie nicht zu Gesicht. Die Kreml-treuen Medien zeichnen das Bild einer sauberen, raschen und vor allem erfolgreichen „Operation“, zu der Moskau aus Gründen der nationalen Sicherheit genötigt worden sei. Es sind Berichte über eine Invasion, die keine sein darf.
Das einflussreiche Staatsfernsehen, die Nachrichtenagenturen sowie andere Kreml-treue Massenmedien sprechen verklausuliert von einer „speziellen Militäroperation“. Die Medien folgen der Diktion des Kreml: Präsident Wladimir Putin hat in seiner frühmorgendlichen Rede am Donnerstag diesen Begriff vorgegeben. Auch Putin sprach das Wort „Krieg“nicht aus.
Um die verharmlosende Sprachregelung durchzusetzen, wird die russische Internetaufsichtsbehörde Roskomnadsor bereits als Zensor aktiv: Unabhängige Medien, die in den letzten Tagen von „Krieg“schrieben, müssten diese Inhalte löschen, hieß es. Sonst drohen ihnen Sperren oder Strafen von bis zu 50.000 Euro.
Es ist eine schizophrene Situation: Der Einmarsch in der Ukraine beherrscht zwar die russischen Schlagzeilen. Doch der Kreml will nicht, dass die Russen die hässlichen Seiten des Krieges mitbekommen. Eigene Verluste? Bisher keine. Zivile Opfer? Gibt es nicht. Widerstand? Damit sei nicht zu rechnen. Und wenn, dann nur von den viel gescholtenen „ukrainischen Nationalisten“und „Banderowzi“. Deren politische Bedeutung wird von der Kreml-Propaganda seit den MaidanProtesten im Jahr 2013 aufgeblasen mit dem Ziel, den ukrainischen Staat zu diskreditieren. Von einem „nazistischen Regime“in Kiew sprach etwa Olga Skabejewa, notorische Propagandistin und Moderatorin der Polit-Show „60 Minuten“im Ersten Kanal. Das ist skurril: Der im Jahr 2019 demokratisch gewählte ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, stammt aus einer jüdischen Familie.
„Hysterie westlicher Medien“. Der Einsatz im Nachbarland, so der massenmediale Tenor, richte sich einzig gegen das ukrainische Militär sowie die „fremdgesteuerte“Regierung. In den Nachrichten zählt der Sprecher des Verteidigungsministeriums trocken auf, wie viele militärische Objekte „neutralisiert“worden seien. Gefolgt vom obligatorischen Bericht, dass ukrainische Soldaten sich massenweise ergeben würden. Reportagen über die Gefechte in Kiew aber sucht man vergeblich. Zur Entkräftung der „Hysterie westlicher Medien“zeigte das Staats-TV am Freitag und Samstag Bilder einer Webkamera vom menschenleeren Kiewer Unabhängigkeitsplatz. „Sehen Sie, alles ruhig und friedlich“, so der zynische Kommentar. Dass die Bewohner aus Angst vor Luftangriffen und Gefechten die Straßen meiden, verschwieg man.
Die Russen sollen nicht erfahren, dass die überwiegende Mehrheit der Ukrainer die fremden Soldaten nicht willkommen heißt. Mit Bildern jubelnder, „befreiter“Ukrainer konnte das
Staatsfernsehen aber bisher nicht aufwarten. Der Erste Kanal war gezwungen, einen Clip aus den sozialen Medien zu zeigen, in dem ein Mann bei Charkiw eine Panzerkolonne begrüßt.
»Sehen Sie, alles ruhig und friedlich«, so der Kommentar des Staatsfernsehens.
Markiert Russlands Überfall auf die Ukraine einen Wendepunkt der Geschichte?
Ivan Krastev: Das ist eine geopolitische, wirtschaftliche und psychologische Zäsur. In den 1930er-Jahren beschrieben Journalisten ihre Gegenwart als Nachkriegszeit. Historiker bezeichnen dieselbe Ära als Vorkriegszeit.
Erleben wir nun das Ende der Vorkriegszeit?
Wir wissen nicht genau, wie die neue Welt aussehen wird. Dieser Krieg kann kalt oder heiß sein. Fest steht: Wir erleben das Ende des Friedens in Europa. Diese Erfahrung müssen wir inmitten einer anderen Katastrophe machen, die uns auch unerwartet getroffen hat: der Pandemie.
Hat sich Putin während der Pandemie in Selbstisolation radikalisiert?
Das ist spekulativ, aber meine Interpretation geht in diese Richtung. Mehr als ein Jahr lang traf der russische Präsident nur eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen und las jede Menge historisches Material. Seinen berühmten Essay über die „Einheit der Russen und Ukrainer“, der im Juli erschien, schrieb Putin größtenteils selbst. Er konzentrierte sich auf sein historisches Erbe. Haben Sie die Sitzung des russischen Sicherheitsrats vor der Anerkennung der „Volksrepubliken“gesehen?
Ein Schauspiel am Hof eines Despoten.
All diese Apparatschiks haben ungefähr das gleiche Alter. Dieser Krieg ist nicht nur Putins Krieg, sondern der Krieg einer Generation ehemaliger KGB-Offiziere, die sich nie verziehen haben, zwischen 1989 und 1991 nicht genug getan zu haben, um die Sowjetunion zu retten.
Leben sie nur in der Vergangenheit oder haben sie auch einen Plan für die Zukunft?
Sie haben keinen Plan für die Zukunft. Putin will nicht die Sowjetunion wiederherstellen, sondern das alte Russland. Es ist ihm gelungen, sich selbst zu überzeugen, dass Ukrainer und Russen ein Volk sind. Die Ukrainer hat er nie gefragt, was sie darüber denken. Putin treibt der Rückgang der russischen Bevölkerungszahlen um. Die Angst vor dem demografischen Verschwinden spielte nun sicher auch eine Rolle.
Halten Sie Putins Verhalten für rational?
Alles ist rational in einem bestimmten Kontext. Und sein Kontext ist die Revanche. Putin glaubt, dass die Geschichte und der Westen Russland schlecht behandelt haben. Und er will das nun rückgängig machen.
Warum schlug Putin ausgerechnet jetzt zu?
Putin ist 70 Jahre alt und neigt vermutlich nicht dazu, Nachfolgern zu trauen. Er will den Status Russlands in der Welt reparieren, solang er sich noch stark fühlt. Zweitens hat er kapiert, dass in den russisch-ukrainischen Beziehungen die Zeit nicht auf seiner Seite ist. Die Ukrainer wären in drei Jahren besser bewaffnet gewesen, die neue Generation ist mit der russischen Kultur nicht mehr verbunden. Drittens erkannte er die gegenwärtige Schwäche des Westens, die Spaltung in den USA. Viertens sah er, wie erschöpft alle Gesellschaften durch die Pandemie waren.
Wie weit wird er in der Ukraine gehen?
Ich glaube nicht bis nach Lemberg. Das Hauptziel seines Angriffs ist die Zerstörung der ukrainischen Unabhängigkeit und Souveränität. Er will die ukrainische Armee zerschlagen, den ukrainischen Präsidenten zum Abgang zwingen und mit einer neuen „Regierung des Friedens“verhandeln. Putin könnte sich total verrechnen. Ich habe den Eindruck, er versteht die ukrainische Gesellschaft nicht.
Unterschätzt Putin, wie sich die ukrainische Gesellschaft seit der Krim-Annexion 2014 verändert hat, wie hoch ihr Kampfwille ist?
Die ukrainische Armee war so gedemütigt, weil sie 2014 nicht kämpfte, dass ich überrascht wäre, wenn sie auch diesmal keinen Widerstand leisten würde. Russland ist den ukrainischen Streitkräften weit überlegen. Doch will Russland die Ukraine wirklich besetzen? Will Russland 44 Millionen Ukrainer unters Joch zwingen? Es wäre wie eine Vergewaltigung.
Den totalen Bruch mit dem Westen nimmt Putin offenbar in Kauf.
Er war sicher, dass der Westen Sanktionen verhängen würde. Wir haben die Macht der Sanktionen total überschätzt. Sanktionen haben in der Geschichte noch nie Panzer gestoppt. Die Europäer hingen der Illusion nach, dass am Ende nur wirtschaftliche Macht zählt. Es stellt sich heraus, dass militärische Macht zählt.
Welche Alternativen außer Sanktionen hätte der Westen gehabt?
Biden bluffte nicht. Er machte klar, dass die Amerikaner nicht bereit sind, die Ukraine zu verteidigen. Der russischen Strategie der Täuschung setzten die Amerikaner eine Strategie der Enthüllung entgegen und veröffentlichten Geheimdienstinformationen über den Angriff. Eines haben die Amerikaner geschafft: Sie haben Putins Narrativ zerstört. Er hat keine Erklärung für seinen Überfall auf die Ukraine. Diese Lügen über einen Völkermord im Donbass sind wirklich lächerlich.
Stoppen konnte der Westen Putin weder mit Sanktionen noch mit seinen Enthüllungen. Die Ukraine lag für die Russen da wie auf einem Präsentierteller.
Die Ukraine ist allein. Der Westen hatte nicht viele Optionen. Die US-Gesellschaft ist total kriegsmüde. Putin hat das richtig erkannt. Er liest den Westen besser, als er die Ukraine liest. Wir glauben, kein politischer Führer ist bereit, den wirtschaftlichen Wohlstand seiner Gesellschaft für eine Militäroperation zu opfern. Doch Putin ist anders. Während der Pandemie haben die westlichen Staaten Geld verfeuert, als ob sie gegen Corona in den Krieg zögen. Russland hingegen hat seine Reserven um 200 Milliarden Dollar aufgestockt und sich auf einen wirklichen Krieg vorbereitet. Der Westen hat aber auch noch etwas anderes übersehen.
Was?
Während der Westen monatelang gerätselt hat, was Putin mit seinem Truppenaufmarsch bezweckt, hat er Belarus praktisch annektiert. 2014 hat sich Diktator Lukaschenko noch gegen die Annexion der Krim ausgesprochen. Jetzt fallen russische Truppen von Belarus aus in die Ukraine ein. Früher wollte Lukaschenko Unabhängigkeit wahren. Jetzt ist er auf das Maß von Präsident Kadyrow in der russischen Teilrepublik Tschetschenien zurückgestutzt.
Der Preis für Putin ist wirtschaftlich hoch. Er verbrannte die Brücken zum Westen.
Europa wird seine Haltung gegenüber Russland radikal ändern und den Fokus von der Wirtschaft auf die Sicherheit verlagern. Das Vertrauen ist auf null gesunken. Europa wird versuchen, die Abhängigkeit von russischer Energie zu verringern. Hinter der Gaspipeline Nord Stream 2 steckte auch ein sicherheitspolitischer Gedanke der Deutschen: Je mehr man mit jemanden handelt, desto mehr hängt man von einander ab, desto geringer das Risiko einer Auseinandersetzung. Jetzt entdecken wir, dass Interdependenz auch Quelle der Verwundbarkeit sein kann.