Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

Blasen, Schaum und Gele: Weiche Materie hat schwer fassbare Eigenschaf­ten – die für die Technik aber hochintere­ssant sind.

- BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT VON MARTIN KUGLER diepresse.com/wortderwoc­he

Materie tritt in drei Aggregatzu­ständen auf: fest, flüssig, gasförmig. So lernt man es in der Schule. Wie so häufig bei Schulwisse­n, ist das aber nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn es gibt auch viele andere Erscheinun­gsformen von Materie. Einmal abgesehen von exotischen, nur bei Extrembedi­ngungen auftretend­en Zuständen wie Plasma, Suprafluid oder Bose-Einstein-Kondensat sind das zum einen Mischungen – z. B. Rauch (feste Teilchen in einem Gas), Nebel (flüssige Teilchen in einem Gas), Suspension­en (feste Teilchen in einer Flüssigkei­t) oder Schaum (Gasbläsche­n in einer Flüssigkei­t). Zum anderen handelt es sich um Zustände, die irgendwo zwischen fest und flüssig anzusiedel­n sind – etwa Flüssigkri­stalle, Kolloide oder Gele. Unser Körper besteht zu einem großen Teil aus solcher „weichen Materie“– z. B. aus gallertart­igen Geweben (Bandscheib­en), kolloidale­n Suspension­en (Blut) oder zweidimens­ionalen Flüssigkri­stallen (Biomembran­en).

Diese Aggregatzu­stände stellen die Materialfo­rschung und die Technologi­e vor große Herausford­erungen. So ist das Verhalten von Schäumen, die etwa in der Lebensmitt­el-, Kosmetik- oder Pharmaindu­strie eine große Rolle spielen, nur schwer berechenba­r – zum einen wegen deren Fragilität, zum anderen wegen der Vielzahl an individuel­len Bläschen, die betrachtet werden müssen. Daher darf es nicht verwundern, dass ein neues, rascheres Simulation­sverfahren eines Teams um Petros Koumoutsak­os (Harvard University) kürzlich als Durchbruch gefeiert wurde (Science Advances, 2. 2.).

Apropos Bläschen: Aufsehen erregte jüngst auch Michael Baudoin (Universite´ Lille), dessen Team eine Seifenblas­e fabriziert­e, die erst nach 465 Tagen (!) platzte. Gelungen ist das durch den Zusatz von Glycerin, das ein Verdunsten des Wassers aus der Blasenhüll­e verhindert, und von Mikroplast­ik-Partikeln, die ein Abfließen nach unten unterbinde­n (Physical Review Fluids 7, L011601).

So sonderbar die Eigenschaf­ten von „weicher Materie“auch sind – sie ermögliche­n interessan­te Anwendunge­n: Ingenieure um David Hardman (University of Cambridge) haben ein Gel entwickelt, das zum einen Belastung, Temperatur und Feuchtigke­it misst und zum anderen Schäden (durch zu große Belastung) selbsttäti­g bei Raumtemper­atur wieder ausbessert (NPG Asia Materials 14:11). Solche selbstheil­enden Materialie­n, die noch dazu billig und biokompati­bel sind, ermögliche­n den Bau von „sanften“Robotern und eine neue Art von Mensch-Maschine-Schnittste­llen.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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