Die Presse am Sonntag

Alligatore­n versenken

Auch am Boden der Tiefsee gibt es Oasen mit komplexen Lebensgeme­inschaften. Um die zu erkunden, lässt man Kadaver von Tieren hinab.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Am 14. Februar 2019 fuhr die R/V Pelican, ein Forschungs­schiff der University of Louisiana, von einem Hafen im Delta des Mississipp­i hinaus in den Golf von Mexiko, mit an Bord waren, neben Meeresbiol­ogen um Craig McClain, drei Kadaver von Alligatore­n, je um die 1,80 Meter lang und 20 bis 30 kg schwer, die Naturschut­zbehörde hatte sie gefunden und zur Verfügung gestellt. Draußen im Meer wurden sie mit 20-Kilo-Gewichten beschwert und versenkt, 2000 Meter, bis zum Grund. Dort hielt man sie periodisch mit einem Tauchrobot­er im Auge bzw. man wollte es, einer der drei war nach acht Tagen weg, nur das Gewicht fand sich in einiger Entfernung (PLoS One 0225345).

Das Experiment diente der Erkundung des Lebens in den Tiefen der Meere, die lang als unbewohnba­r galten, weil es dort weder Licht noch Nahrung gibt und stattdesse­n eisige Kälte und enormen Druck, noch im 19. Jahrhunder­t sah man die „Grenze des Lebens“bei 550 Metern unter der Meeresober­fläche. Dieser Vorstellun­g bereitete Charles Thomson ein Ende, der von 1872 bis 1876 mit dem Forschungs­schiff Challenger unterwegs war und mit Fallen an 4,8 Kilometer langen Trossen „wunderbare Lebewesen“aus der Tiefe holte: „Ihre Lebensweis­e und ihre Beziehung zu anderen Lebewesen muss erkundet werden.“

Das muss sie weithin heute noch. Zwar weiß man längst, dass auch in die finsterste­n Abgründe ständig Manna von oben rieselt, Kot und verendetes Zooplankto­n, man nennt es „Meeresschn­ee“, es bringt im Schnitt 0,3 bis zehn Gramm organische­n Kohlenstof­f im Jahr auf jeden Quadratmet­er.

Das nährt, zum Aufbau von komplexen Ökosysteme­n ist es aber zu wenig, da braucht es andere Brocken. 1987 bekamen Forscher im Tauchboot Alvin, unter ihnen Craig Smith (University of Hawaii), in 1200 Metern Tiefe erstmals einen zu Gesicht: ein 21 Meter langes Skelett, sie hielten es für das fossiliert­e eines Sauriers, es war aber das eines Wals, von dem nur noch die Knochen

übrig waren. Aber auf bzw. in denen wimmelte Leben. Smith gab dem Phänomen einen Namen und etablierte ein neues Forschungs­feld, das der „whale falls“(Nature 341, S. 27).

Das kam mühsam voran, tote Wale am Meeresgrun­d sind schwer zu finden, aber bald konnte man drei bzw. vier Stufen der Verwertung unterschei­den: In der ersten („mobile scavenger state“) kommen die, die sich über das Fleisch hermachen, Haie etwa und Schleimaal­e, sie reißen 40 bis 60 Kilo am Tag heraus, das kann bei großen Kadavern – Blauwale bringen es auf bis zu 160 Tonnen – sieben bis elf Jahre reichen. Dabei gehen auch Bissen verloren und fallen auf den Boden, über die und die Reste auf den Knochen machen sich in der zweiten Phase („enrichment opportunis­t stage“) Krustentie­re, Kraken und Würmer her, sie zehren Monate bis Jahre davon.

Sind die Reserven erschöpft und die Knochen endgültig abgenagt, kommen die, die sie zersetzen: In der „Sulfur-loving“-Phase siedeln sich Bakterien an, von denen manche das Fett aus den Knochen holen, andere machen sich über die dabei anfallende­n Sulfide her. Dann bleibt endlich das nährstoffl­ose nackte Gerippe, auf ihm können sich etwa Korallen ansiedeln, es ist etwas umstritten, ob diese „reef stage“zu den Phasen gezählt werden soll.

Knochenfre­sser. Wie auch immer, wenn sie da ist, müssen auch die letzten Hungrigen weiterzieh­en, den Haien und Krustentie­ren ist das leicht gefallen, aber in der dritten Phase sind auch Spezialist­en gekommen, die nur auf bzw. von „whale falls“leben, Robert Vrijenhoek (Monterey Bay Aquarium Research Institute) hat sie 2004 bemerkt (Science, 305, S. 668): Würmer, die sich mit Säuren in die Knochen bohren und mit wurzelarti­gen Auswüchsen das Kollagen heraushole­n.

Allein können sie das nicht, sie haben weder Mäuler noch Verdauungs­organe, beide werden ersetzt, durch symbiotisc­he Bakterien, die sie in sich tragen, ebenso wie noch etwas: Lang hat man nur Weibchen gefunden, dann bemerkte man, dass sie Hunderte mikroskopi­sch kleine Männchen in ihren Reprodukti­onsorganen tragen (vermutlich deshalb, weil die Geschlecht­er einander zwischen den verstreute­n „whale falls“sonst kaum finden könnten). All dieser Wunderlich­keiten wegen wurden sie „Zombie-Würmer“genannt, in der Fachtermin­ologie heißen sie Osedax, Knochenfre­sser.

Wenn sie die Knochen zersetzt haben, brauchen sie eine neue Oase in der Wüste der Tiefsee. Im Schnitt liegt an den Wanderrout­en der Wale alle zwölf Kilometer ein Kadaver, aber die müssen von den Würmern erst einmal überbrückt werden. Noch schwerer ist das Finden für Forscher, es sind rare Glücksfäll­e – einen hatte (Kiel) gerade mitten im Atlantik Daphne Cuvelier (Deep Sea Research Part I 103662) –, deshalb hat man zum Erkunden der Details schon tote Rinder und Schweine versenkt, selbst einen Truthahn – auch Wale, die an Küsten angespült werden, sie sinken nicht so leicht, sind voll mit Faulgasen, tonnenschw­ere Gewichte müssen helfen, oft ausrangier­te Räder von Eisenbahne­n.

Heute zehren die Oasen oft jahrelang von toten und hinabgesun­kenen Walen.

Ob es das Oasenleben schon vor den Walen gab, testet man mit Saurierers­atz: Reptilien.

Andere Forscher werden in Naturhisto­rischen Museen fündig, Steffen Kiel (Kiel) sichtete dort Bohrspuren von Osedax in einem 30 Millionen Jahren alten Walfossil (Pnas 107, S. 8656). Etwa um diese Zeit sind diese Meeressäug­er gekommen, und dass mit ihnen auch die Würmer kamen, darauf deutet eine Interpreta­tion der molekulare­n Uhren ihrer Gene – bei der die Zahl der Mutationen mit der Mutationsr­ate verrechnet wird –, aber weil man die Mutationsr­ate nur schätzen kann, steckt viel Unsicherhe­it darin. So weist dann auch eine alternativ­e Interpreta­tion viel weiter zurück, in die Zeit, in der riesige Saurier die Meere beherrscht­en. Auch in ihnen, 100 Millionen Jahre alten Plesiosaur­iern, hat Silvia Danise (Plymouth) schon mutmaßlich­e Bohrlöcher von Osedax gefunden (Biology Letters 11: 2015.0072).

Aber solche Spuren können trügen bzw. anderen Ursprungs sein, deshalb hat McClain an Alligatore­n getestet, ob Osedax sich auch über Reptilien hermacht. Das tun die Würmer, sofern sie nur dazu kommen: Der eine verschwund­ene Kadaver muss von einem noch rätselhaft­en sehr großen Tier weggeschle­ppt worden sein.

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