Das Privileg, wütend zu sein
Weibliche Wut hat in der Öffentlichkeit höchstens in Wut-Workshops Platz. Denn Frauen sollen immer noch lieb und freundlich sein – und vor allem keine Forderungen stellen.
Anna Geselle ist, wie sie selbst sagt, mit einem leicht cholerischen Vater aufgewachsen: „Auch ich habe als Kind gern meine Wut gezeigt und kommuniziert. Als erwachsene Frau ist das dann gewichen. Anstelle von Wut habe ich oft Trauer oder Scham verspürt“, erzählt die deutsche Illustratorin im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Mit einem Comic über Beate Uhse war sie 2019 für den Hamburger Bilderbuchpreis nominiert, ihr jüngster Comic „Furiositäten“widmet sich nun dem Thema weibliche Wut. Sie rückt dabei den gesellschaftlichen Umgang damit in den Fokus und wirft die Frage auf, warum Frauen Wut immer noch eher abgesprochen wird. Ebenso wie das die deutsche Journalistin und Autorin Ciani-Sophia Hoeder in ihrem neuen Buch „Wut und Böse“tut.
Mit klarem, aussagekräftigem Strich illustriert Geselle die gesellschaftlichen Codes, nach denen Frauen wütend sind. In einer schwarz-weiß gehaltenen Welt dürfen Frauen sich hinter verschlossenen Türen, in Wut-Workshops oder im Wutraum ruhig einmal die Seele aus dem Leib schreien, ansonsten sollen sie sich aber lieber besinnen und zur Beruhigung Yoga machen.
Männliche Wut wird als Dominanzgeste akzeptiert. Sie verleiht Status.
Besonders visuelle Darstellungen der Wut fokussieren sich auf die Handlungen, die aus Wut entstehen, und nicht auf die Wut als Emotion an sich, weiß auch Ciani-Sophia Hoeder. In ihrem Buch „Wut und Böse“fragt sie, warum wütende Frauen eigentlich einen so schlechten Ruf genießen. Sie plädiert dafür, Wut zu entstigmatisieren und als neutrale Emotion zu verstehen: „Wut steht oft für Gewalt und Zerstörung. Aber Wut ist zuerst eine Emotion, die stattfindet, dann erst kommt die Handlung, also ob ich gewalttätig werde, schreie oder innerlich wütend bin.“
Unweibliche Wut. Frauen gelingt oft kein konstruktiver Umgang mit ihrer Wut, berichtet die klinische Psychologin und Kunsttherapeutin Veronika Wieser: „Sie haben öfter Schwierigkeiten, das Gefühl überhaupt wahrzunehmen und sich selbst als wütend zu akzeptieren.“Der Anspruch von Frauen, freundlich zu sein und ohne Wut zu leben, gehe oft nach hinten los. „Wut gehört zum Gefühlsspektrum dazu.“
Geselle und Ciani-Hoeder sind beide davon überzeugt, dass die Annahme, Frauen seien weniger wütend, auf gesellschaftlich gelernten Mechanismen beruht. „Frauen lernen früh, freundlich, liebevoll und nett zu sein – sonst werden sie nicht gemocht“, führt Hoeder aus. „Vielen fällt es schwer, nicht als lieb wahrgenommen zu werden.“Wut hingegen sei laut, sichtbar und brauche Platz. „Dabei empfinden Frauen gar nicht weniger Wut, aber es gibt dieses Bild, dass Frauen nicht wütend zu sein haben.“Von klein an würden Mädchen angehalten, mit ihrer Wut anders umzugehen als Buben. Genau umgekehrt verhalte es sich übrigen bei Buben und Trauer. „Wenn Männer wütend sind, wird das als Dominanzgeste akzeptiert. Es gilt vielleicht als kleine Schwäche, aber für die wird ihnen Status zugesprochen“, sagt auch die Psychologin Wieser.
Wo haben wütende Frauen heute Platz? „Früher war es der Kaffeeklatsch, heute ist es der Wutraum“, so Hoeder. Also in einer Einrichtung, in der man gegen Geld mit einem Baseballschläger Geschirr und Mobiliar zertrümmern darf, wo aber niemand die Wut zu Gesicht bekommt. Ähnlich beschreibt das Geselle: „Wut zu zeigen ist Menschen gestattet, die Macht innehaben, also vor allem weißen männlichen Personen.“Öffentlich wütend sein zu dürfen sei ein Privileg. „Manche Menschen und Gruppen bekommen Wut zugestanden, ihre Wut ist nachvollziehbar. Wenn der Chef wütend ist, ist das okay, andere Gruppen können sich das gar nicht leisten.“Die Wut von Frauen sei, wie die von marginalisierten Gruppen, unerwünscht.
Instrument der Selbstwirksamkeit. Dabei stehe hinter der Wut das wichtige Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit. „Wut gibt die Power zu sagen: Nein, jetzt reicht es mir. Etwas verändern zu können ist ermächtigend.“Genau das würde Frauen oft fehlen, meint Wieser: „Anstelle von ,Ich bin wütend und habe etwas zu sagen‘ sagen Frauen oft: ,Ich bin hilflos.‘“Selbstwirksamkeit sei auf individueller und auf struktureller Ebene entscheidend. Wird einer Gruppe das Gefühl der Wut nicht zugestanden, verwehrt man dieser auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit: „Wer Wut ausdrückt, bewegt etwas und ist wichtig!“
Diese Erfahrung hat auch die Psychologin Wieser oft beobachten können: „Je mehr Frauen mit dem Gefühl der Wut in Kontakt kommen, umso mehr sehen sie, dass man doch einiges damit bewegen kann. Oft ändern sich die Dinge und es gibt das Aha-Erlebnis: Ich kann etwas bewirken!“
„Wut und Böse“.
Ciani-Sophia Hoeder, Hanserblau, 208 Seiten, 18,50 Euro
„Furiositäten. Ein Comic über weibliche Wut“.
Illustration und Text von Anna Geselle, Büchergilde, 176 Seiten, 22 Euro