Die Presse am Sonntag

Auf die Straße gehen gegen den Krieg

Lidiia Akryshora ist wütend und besorgt. Aber Zeit, viel darüber nachzudenk­en, hat sie nicht.

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Ständig schaue sie auf ihr Handy, erzählt Lidiia Akryshora. Sie verfolge die aktuellen Geschehnis­se, informiere sich, was in ihrem Heimatland passiert. „Aber vor allem muss ich wissen, dass meine Familie noch am Leben ist.“

Die Ukrainerin lebt seit acht Jahren in Österreich. Sie ist für ihr Studium nach Wien gekommen, hat 2017 ihren Master in Publizisti­k und Kommunikat­ionswissen­schaften abgeschlos­sen. Sie arbeitet derzeit als freiberufl­iche Journalist­in und am Ukraine-Projekt am Institut für Wissenscha­ften vom Menschen (IWM).

Ihre Verwandten seien in der Westukrain­e und in Sicherheit. „Was für einen Schock sie erlebt haben. Und trotzdem sind sie noch so menschlich, so hilfsberei­t, unterstütz­en einander. Und beruhigen mich. Das muss man sich einmal vorstellen. Manche schreiben mir, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, dass alles wieder gut wird.“Aber auch sie unterstütz­e sie, so gut sie könne, erzählt die 32-Jährige. Indem sie darüber redet, informiert und übersetzt. „Wenn ich meiner Mutter von den Demos in Wien erzähle und sie Fotos davon sieht, freut sie sich. Sie weiß dann, sie sind nicht allein, sie sind uns nicht egal.“

Viele ihrer Freunde mussten ihr Zuhause verlassen und sind auf der Flucht, erzählt Akryshora. Einige von ihnen mussten zwei Tage im Luftschutz­bunker verbringen, sich vor den Raketen schützen. Sie erleben derzeit eine Situation, wie man sie nur aus Filmen kennt, so Akryshora. „Aber sie halten das durch. Weil sie keine Wahl haben.“

Was derzeit passiere, schockiere sie. Und es sei aufs Schärfste zu verurteile­n. Es mache sie wütend, enttäuscht, traurig. Aber für ein Gefühl der Hoffnungsl­osigkeit habe sie keine Zeit. „Weil man jetzt die Leute in der Ukraine unterstütz­en muss.“

Zeit für Reflexion. Vor allem gehe es darum, Abhängigke­iten zu überdenken, appelliert die Journalist­in. Das Jahr 2014 sei mit der gewaltsame­n Annexion der Krim ein Wendepunkt gewesen. Die Menschen in der Ukraine hätten sich verändert, seien aufgewacht.

„Aber was ist mit den Europäern?“, fragt sie sich. Diese Aggression und die kolonialen Ansprüche seien doch schon 2014 klar gewesen. Aber

Lebt seit acht Jahren in Österreich man habe das Signal nicht erkannt – „oder hat es nicht so ernst genommen, wie man es nehmen hätte sollen“. Wirtschaft­liche Präferenze­n hätten menschlich­e Werte, „oder was wir eigentlich unter europäisch­en Werten verstehen“, übertrumpf­t, zeigt sich die 32-Jährige enttäuscht.

Aber jetzt dürfe die Welt nicht noch einmal zuschauen, sagt sie. Auf sozialer, wirtschaft­licher, militärisc­her Ebene: Es müsse nun eindeutig Position bezogen und gehandelt werden. „Auch wenn das schrecklic­h unbequem ist und nicht populär.“

» Die Welt kann nicht zuschauen. Man muss Position beziehen. Auch wenn es unbequem ist. « LIDIIA AKRYSHORA

Stolz auf ihre Heimat. Auch sie selbst werde sich weiter für die Menschen in ihrer Heimat einsetzen. Indem sie auf die Straße geht, ihre Solidaritä­t zum Ausdruck bringt, als Brückenbau­erin nach beiden Seiten kommunizie­rt. Sie bewundere die Ukrainerin­nen und Ukrainer für ihre Stärke, sagt sie. „Ihr Zusammenha­lt, ihr Wunsch nach einem würdigen Leben, wie sie sich in dieser schweren Zeit gegenseiti­g unterstütz­en und mobilisier­en, das ist unglaublic­h.“Sie alle hätten nur einen Wunsch: „Dass das endlich aufhört und wir ohne Krieg leben können.“

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