Wie aus wenig Plastik viel Hüftspeck wird
Über Nahrung, Wasser und Luft nimmt der Mensch etwa fünf Gramm Mikroplastik in einer Woche in sich auf – und wird davon dick und hormonell unausgeglichen. Die Balance zurück - und das Gewicht ins Lot – bringen soll die Aromatase-Diät.
Der Sage nach verwandelte sich alles, was Midas berührte, in Gold. Der Stein, den er aufhob, die Trauben, die er zu essen gedachte, sogar seine Tochter, die er umarmte. Aus einem göttlichen Geschenk wurde ein Fluch, an dem der König drohte zugrunde zu gehen. Eine ähnliche Tragik ortet Peter Frigo. Wobei der Endokrinologe nicht das gelbe Metall zum Gegner hat, sondern Kunststoff: „Plastik macht uns hormonell unausgeglichen – und damit dick.“
Dabei begann alles märchenhaft: Mit der Entwicklung von Plastik gingen eine Reihe von Erleichterungen einher. Es ist kostengünstig, leicht und – je nach Herstellungsart – elastisch oder stoßfest. Ermöglicht wird das seit etwas mehr als 110 Jahren durch die Umwandlung von Erdöl in synthetische Polymere. Seither können Blutkonserven steril verpackt, Lebensmittel frisch gehalten, Müllsäcke im Akkord produziert werden. Und einiges mehr.
Seit 1950 wurden weltweit circa 8,3 Milliarden Tonnen Plastik hergestellt, wie aus einer 2017 im Fachmagazin „Science Advances“publizierten Studie hervorgeht. Das entspricht dem Gewicht von 822.000 Eiffeltürmen. Tendenz: rasant steigend. So wurde die Hälfte alles bisher geschaffenen Plastiks nach dem Jahrtausendwechsel angefertigt. Allerdings: Nur 30 Prozent davon wird tatsächlich gebraucht, der Rest ist Müll, der auf Deponien liegt oder im Meer treibt, durch UV-Strahlung in kleinste Teilchen zersetzt wird und über den Boden, das Wasser und die Luft in die Nahrungskette und letztlich den menschlichen Körper gelangt.
Künstliche Östrogene. Über die Haut, Lebensmittel und die Atmung „nehmen wir in einer Woche im Durchschnitt fünf Gramm Mikroplastik auf“, sagt Frigo. „Das ergibt eine Kreditkarte.“Klingt unappetitlich und ist ungesund: „Mikroplastik, das wir zum Beispiel durch PET-Flaschen oder To-goBecher unbewusst aufnehmen, enthält Umweltöstrogene, auch Obesogene genannt.“Sie tun, was alle Östrogene tun: „Sie verweiblichen den Körper, indem sie die Aromatase stimulieren. Das ist ein Prozess, bei dem sich das körpereigene Testosteron, das schlank hält und den Muskelaufbau begünstigt, in Östrogen verwandelt, das die Ausbildung von Fettzellen fördert“, sagt der Leiter der Hormonambulanz an der Wiener Uniklinik für Frauenheilkunde.
„Entscheidend für unser Gewicht ist die Balance der Geschlechtshormone Testosteron und Östrogen.“Fehlt dieses Gleichgewicht, bedeutet das in
FAKTEN der Mehrheit der Fälle einen Östrogenüberschuss und den sinnbildlichen Fall des ersten Dominosteins: „Ein Mangel an Testosteron erhöht die Bildung von Bauchfett, das wiederum Fettsäuren freisetzt sowie die Hormone Leptin und Adiponektin ausschüttet, die unser Hungergefühl steigern können“, sagt Frigo. „Hinzu kommt, dass Fettgewebe jeglicher Art die Aromatase fördert, wodurch ein noch größerer Mangel an Testosteron entsteht, was wiederum zu mehr Bauchfett führt und so weiter.“Das Resultat: „Wir nehmen zu und verstehen nicht, warum.“
„Zum selben Ergebnis führen Umweltöstrogene“, sagt Frigo – wobei es sich bei ihnen, anders als ihr Name vermuten lässt, nicht um Hormone, sondern um Moleküle handelt, die sich wie Hormone verhalten. Zu den bekanntesten zählen die Weichmacher Bisphenol A und Phthalate, deren Einsatz in der EU mehrfach eingeschränkt wurde: Seit 2007 dürfen bestimmte Phthalate nicht mehr in Spielzeug verarbeitet werden, bei Lacken und Kosmetika wurde ihre Verwendung eingeschränkt, bei Lebensmittelverpackungen ihr Grenzwert gesenkt. In Infusionsbeuteln, Arzneikapseln, Fußbodenbelägen, verpackter Butter oder eingeschweißter Wurst sind sie aber nach wie vor vorhanden.
Nicht nur dort: Der Biologe Martin Wagner hat mit Forschern der Norwegian University of Science and Technology diverse aus Plastik bestehende Alltagsartikel wie Joghurtbecher, Taschentuchhüllen sowie Küchenschwämme untersucht. Die Bilanz, die er im Jänner in der Zeitschrift „Environmental Science & Technology“niederschrieb: In 34 Produkten fanden sich über 55.000 Chemikalien, darunter elf Substanzen, die die Bildung von Fettzellen anregen und einen „relevanten und unterschätzten Faktor für Übergewicht und Fettleibigkeit“darstellen dürften.
Schnecken im Flaschentest. Ähnliches ist in der jüngsten „National Health and Nutrition Examination Survey“nachzulesen. Demnach stieg der BodyMass-Index von Amerikanern in den letzten Jahrzehnten trotz gleicher Kalorienzufuhr
Peter Frigo
ist Leiter der Hormonambulanz an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde am Allgemeinen Krankenhaus (AKH) in Wien. Er verfasste zahlreiche Fachpublikationen zu Hormon- und Ernährungsthemen und ist in diesen Bereichen auch als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig.
„Mühelos schlank mit der Kraft der Hormone“
(Edition A, 208 Seiten, 22 Euro) lautet der Titel seines neuen Buches, in dem der Universitätsprofessor Wege zeigt, um Umweltöstrogenen auszuweichen und den Hormonhaushalt (wieder) ins Gleichgewicht zu bringen. Entscheidender Faktor dabei: die Aromatase. Zwei Beispiele: Tofu regt die Aromatase an, Zink hemmt sie.
und gleicher körperlicher Aktivität an. Mehr noch: In den USA sind aktuell mehr als 30 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen fettleibig. In Österreich gelten der Statistik Austria zufolge rund 3,7 Millionen Menschen über 15 Jahren als übergewichtig; unter den Achtjährigen ist jeder dritte Bub und jedes vierte Mädchen betroffen. „Weder die Babys und Kinder noch die Erwachsenen bewegen sich signifikant weniger oder essen mehr“, sagt Frigo. „Die Ursache ihres Gewichts sind folglich wohl die Umweltöstrogene.“
Dafür spreche auch der „Schneckentest“: Gibt man die Larven in eine Glasflasche, entwickeln sich aus ihnen nur wenige kleine Weichtiere. Werden sie hingegen in eine PET-Flasche verfrachtet, entstehen viele üppige Schnecken. Verstärkt wird der Effekt, wenn die Plastikflaschen vor dem Test öfter als einmal befüllt und geleert, sie in die Sonne gelegt oder angekratzt wurden. „Dadurch wird noch mehr Mikroplastik gelöst“, sagt Frigo, der den Test auch in seinem Buch „Mühelos schlank mit der Kraft der Hormone“erwähnt. Darin findet sich neben Kritik („Experten nennen zwar die hormonelle Wirkung von Plastik, die Brücke zum Körpergewicht schlägt aber kaum jemand“) auch ein Ausweg aus dem kalorischen Dilemma: die Aromatase-Diät.
Diät für die Hormone. „Bei Frauen kann sich ein hormonelles Ungleichgewicht in einem gestörten Menstruationszyklus äußern, Männer haben mit einem erheblichen Leistungsabfall zu kämpfen, der sich auf die Libido und die Potenz auswirken kann“, sagt Frigo. Bei beiden komme es darüber hinaus zu Fettablagerungen an den Hüften sowie teilweise zu Einbußen der Fruchtbarkeit, vor der der Arzt schon 2009 im Film „Plastic Planet“des Wiener Regisseurs Werner Boote warnte.
Um sicherzugehen, sollte vor dem Start der Aromatase-Diät ein Hormonbefund gemacht werden. Zeigt er eine Dysbalance von Östrogen und Testosteron, ist die Adaptierung des Speiseplans für zumindest sechs Wochen ratsam. Ihr Kernpunkt: Abstinenz. „Alkohol,
vor allem Bier, ist der Hauptförderer der Aromatase und damit der Bildung von Fettzellen“, erklärt Frigo.
Fast ebenso schädlich ist Kuhmilch – und ihre Varianten: „Der Großteil der hormonell wirksamen Substanzen, die wir essen, stammt aus Kuhmilchprodukten“, sagt der Endokrinologe. Der Hintergrund: „Sie enthält Dioxine, die bei der Verbrennung von Plastik frei werden und sich im Boden absetzen, worauf das Gras wächst, das die Tiere fressen“, erklärt Frigo. „Sie kommen in die Milch und über sie in unseren Körper, wo sie sich mit Vorliebe im Fettgewebe einlagern, uns dick machen und zudem potenziell krebserregend sind.“Völlig abschwören müsse man der Kuhmilch nicht: „Es hilft, wenn sie mit Ziegenoder Schafmilch gemischt wird.“
»Schlank machendes Testosteron verwandelt sich in dick machendes Östrogen.«
Anstelle von Gebackenem, Geröstetem und Gebratenem sollten während der Diät gekochte Speisen serviert werden. Die drei Erstgenannten enthalten nämlich „den Dickmacher Acrylamid“, schreibt der Mediziner in seinem Buch. Außerdem rät er dort zum Griff zum „Aromatase-Hemmer“Zink, wie auch zu Ballaststoffen, Pilzen, Kamillentee und schwefelhaltigen Nahrungsmitteln, zu denen er Zwiebel, Knoblauch und Zitrusfrüchte zählt. Die wissenschaftliche Erklärung dahinter: „Sie veranlassen die Leber, Gallensäure abzugeben, die Östrogen abbaut.“
Neben einer hormonarmen Ernährung ist freilich auch ausreichend Bewegung ein entscheidender Faktor. „Sport hilft beim Abnehmen nicht bloß, weil wir dabei Kalorien verbrennen, sondern auch, weil der Körper dabei Testosteron freisetzt“, sagt Frigo. Und zeigt damit, wenn auch unbeabsichtigt, eine weitere Parallele zu König Midas auf. Letzterer musste schließlich bis zum mystischen Fluss Paktolos laufen und in ihn eintauchen, um sich seines Schlamassels zu entledigen.