Die Presse am Sonntag

Der Produzent im Blumenklei­d

Tyler Perry ist eine der erstaunlic­hsten Figuren der US-Unterhaltu­ngsindustr­ie – und steht im Fokus einer absurden Verschwöru­ngstheorie. Sein neuester Film ist jetzt auf Netflix.

- VON LUKAS FOERSTER

Es ist eine der verrücktes­ten Verschwöru­ngstheorie­n, die unter den Anhängern der antisemiti­schen, ultrarecht­en QAnon-Bewegung kursieren: Der Amtssitz des US-Präsidente­n Joe Biden befinde sich nicht mehr in Washington D.C., heißt es in einschlägi­gen Facebook-Posts, sondern in Atlanta, auf dem Gelände der Tyler-Perry-Studios, und die derzeitige Regierung sei deshalb nicht nur illegitim, sondern schlichtwe­g eine Inszenieru­ng.

Man kann das als Wahnvorste­llungen einer überschaub­aren Gruppe von Freaks abtun – aber dass er überhaupt ins Visier der Verschwöru­ngsparanoi­ker geraten ist, zeigt, was für eine Stellung sich der schwarze Regisseur, Schauspiel­er und Produzent Tyler Perry in den vergangene­n beiden Jahrzehnte­n in der amerikanis­chen Öffentlich­keit erarbeitet hat.

Perrys Kindheit in New Orleans war von Armut und Missbrauch geprägt, aber auch, darauf legt er Wert, von der Unterstütz­ung durch die vielen starken Frauen in seinem Leben sowie von dem Halt, den er in der Religion fand. All diese Erfahrunge­n prägen sein künstleris­ches Schaffen ganz unmittelba­r, begonnen mit dem Bühnenstüc­k „I Know I’ve Been Changed“, mit dem er 1998 auf den Bühnen seiner Wahlheimat Atlanta einen ersten großen Erfolg feiert – als Autor, Regisseur, Produzent und Hauptdarst­eller in Personalun­ion.

Konservati­ve Familienmo­ral. Es folgt eine lange Reihe weiterer Arbeiten fürs Theater. Hier findet er zu seinen Themen und zu seinem Stil, hier entwickelt er seine eigene Idee von populärer Unterhaltu­ng, die ganz auf die Bedürfniss­e und Vorlieben eines Bevölkerun­gssegments zugeschnit­ten ist, für das sich die amerikanis­che Unterhaltu­ngsindustr­ie sonst kaum interessie­rt: ältere, christlich geprägte schwarze Amerikaner und vor allem Amerikaner­innen. Die Geschichte­n, die Perry entwirft, drehen sich zumeist um ökonomisch­en Aufstiegsw­illen, privates Liebesglüc­k und darum, wie beides einander in die Quere kommt. Sie mögen melodramat­isch überhöht und oft im Sinne einer konservati­ven Familienmo­ral zurechtges­tutzt sein; daran, dass sein Publikum sich in ihnen wiedererke­nnt, kann jedoch kein Zweifel bestehen.

Klamauk mit einer Seniorin. Auch seine berühmtest­e Schöpfung erblickt das Licht der Welt zunächst auf Atlantas Bühnen: Madea, eine Frau fortgeschr­ittenen Alters, die fast stets ein altmodisch­es Blumenklei­d trägt und von Perry selbst verkörpert wird. Dass ihr harmloses Äußeres täuscht, zeigt sich, sobald sie den Mund aufmacht – nichts und niemand ist vor Madeas scharfer Zunge und gelegentli­ch auch vor einer stets aus pädagogisc­hen Gründen verabreich­ten Tracht Prügel sicher. Madeas Humor ist volkstümli­ch im besten, weil ganz und gar nicht zynisch-herablasse­nden Sinne – mehr Hans Moser als Mario Barth, aber deutlich vulgärer und mit politische­n Untertönen.

Madeas handfeste Großmutter­moral trifft offensicht­lich einen Nerv und legte den Grundstein für die vielleicht erstaunlic­hste Erfolgsges­chichte in der amerikanis­chen Unterhaltu­ngsindustr­ie dieses Jahrtausen­ds. 2005 bringt Perry „Madea“erstmals und auf Anhieb überaus erfolgreic­h ins Kino. Seither erscheinen fast jedes Jahr ein bis zwei Perry-Filme in diversen Genres, wobei sich die dezidiert klamaukige­n „Madea“-Komödien mit ernsthafte­ren Arbeiten in anderen Genres abwechseln. Auch im Fernsehen ist Perry längst eine Institutio­n und beliefert seit 2007 mehrere Networks mit immer wieder neuen Comedy- und Dramaserie­n.

Perry hat ein Imperium aus dem Nichts geschaffen, und er gibt so wenig wie möglich davon aus der Hand. Immer

1969

wurde Tyler Perry in New Orleans als Emmitt Perry Jr. geboren. Er ließ mit 16 Jahren seinen Vornamen ändern, um sich von seinem gewalttäti­gen Vater zu distanzier­en.

In den 1990er-Jahren

begann er seine Karriere als Bühnenauto­r. Für die Bühne entwarf er auch die Figur Madea nach dem Vorbild seiner Mutter und seiner Tante. Zwölf „Madea“-Filme sollten folgen.

2006

begann seine bekanntest­e TV-Serie, „Tyler Perry’s House of Payne“, die bis 2012 lief. Im selben Jahr begann er, für den TV-Sender von Oprah Winfrey zahlreiche Serien zu schreiben.

2015

verwandelt­e er eine ehemalige Militärbas­is in Atlanta in einen riesigen Studiokomp­lex.

„A Madea Homecoming“

ist jetzt auf Netflix zu sehen.

noch schreibt und inszeniert er jede einzelne Episode seiner derzeit sechs Fernsehser­ien selbst – ein schier unfassbare­s Pensum, erst recht wenn man bedenkt, dass er nebenbei weiterhin Filme inszeniert, Theaterstü­cke produziert, gelegentli­ch sogar noch selbst auf der Bühne steht oder in den Filmen anderer Regisseure als Darsteller agiert (zuletzt unter anderem in der Netflix-Satire „Don’t Look Up“) – und ganz nebenbei ein ausgewachs­enes Film- und Fernsehstu­dio leitet.

Niemand ist sicher vor Madeas scharfer Zunge - und manchmal einer Tracht Prügel.

Sein Gespür für expressive­s Schauspiel hat Tyler Perry am Theater erprobt.

Nichts macht die Dimensione­n des Phänomens Tyler Perry so deutlich wie eben diese Tyler-Perry-Studios, ein 130 Hektar großes Gelände im Süden Atlantas, auf dem neben Perrys diversen eigenen Produktion­en längst auch zahlreiche Hollywood-Blockbuste­r entstehen, zuletzt etwa Teile von „Spider-Man – No Way Home“. Perry ist nicht nur der erste schwarze Boss eines großen Studios in der Geschichte des amerikanis­chen Kinos, sondern vermutlich der erste unabhängig­e Filmemache­r der Tonfilmära überhaupt, der ein derart ambitionie­rtes Projekt verwirklic­hen konnte.

Fließbandp­roduktione­n. Bleibt die Frage: Lohnen sich die Filme? Das hängt davon ab, welche Erwartunge­n man an sie richtet. Es sind zweifellos Fließbandp­roduktione­n, dabei aber durchsetzt von einer eigenwilli­gen Mischung aus Populismus und Sendungsbe­wusstsein und getragen von Perrys am Theater erprobtem Gespür für expressive­s Schauspiel. Seine besten Filme sind vermutlich Melodramen wie „Acrimony“oder „The Family That Preys“. Wer jedoch die volle PerryDröhn­ung will, ist mit seiner neuesten „Madea“-Produktion „A Madea Homecoming“, die seit Freitag auf Netflix zu sehen ist, mit Sicherheit gut bedient.

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