Die Presse am Sonntag

Happy Birthday dissonant: 100 Jahre Zwölftonmu­sik

1922 proklamier­te Arnold Schönberg eine »Vorherrsch­aft der deutschen Musik« für die kommenden 100 Jahre. Was daraus wurde – und warum seine Klänge für viele noch immer »falsch« klingen.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Zwölftonmu­sik? Der gelernte Konzertabo­nnent nimmt im Geiste Reißaus, sobald dieses Stichwort fällt, das die ohnehin allseits gefürchtet­e „Moderne Musik“sozusagen zum Quadrat erhebt. Immerhin: Keine zweite Kompositio­nstechnik hat es zu derartiger Berühmthei­t gebracht. 100 Jahre ist es her, dass der Komponist Arnold Schönberg verkündete: „Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrsch­aft der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre gesichert ist.“

Die Frist ist vorstriche­n; und von einer Vorherrsch­aft der deutschen Musik konnte keine Rede sein. Freilich: Was sollte das heißen, deutsche Musik? Kaum ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis dieser Begriff per Gesetz neu definiert wurde, von Machthaber­n, für die ein Mann wie Schönberg jedenfalls nicht dazugehört­e. Einer der Gründe dafür, wenn auch nicht der ausschlagg­ebende, war übrigens die „Zwölftonmu­sik“– inwiefern sollte sie deutsch sein, inwiefern Musik?

Notwendige­s Übel? Für Schönberg war sie notwendig. Er und einige seiner Zeitgenoss­en hatten die Musik zuvor revolution­iert, indem sie ihr den Boden der Tonalität entzogen: Das künstleris­che Ausdrucksb­edürfnis hatte sich in der Zeit nach Beethoven in immer kühnere Gefilde vorgewagt und die Möglichkei­ten, von einer Tonart in eine andere zu wechseln, immer weiter angereiche­rt. Bald taugten Dur und Moll, die Altvertrau­ten, nicht mehr als Orientieru­ngshilfen. Der Kosmos der musikalisc­hen Harmonien hatte sich ins Unendliche geweitet.

Der Point of no Return war für die akustische­n Sinnesreiz­ungen mit Wagners „Tristan und Isolde“erreicht. Der Musikfreun­d, dem das Internet die

Möglichkei­t bietet, quasi die gesamte Musikgesch­ichte auf Knopfdruck abzurufen, kann selbst die Probe aufs Exempel machen: Bis zum „Tristan“gelingt es ihm mehr oder weniger mühelos, in jedem Moment einer Kompositio­n das harmonisch­e Gravitatio­nszentrum auszumache­n: Wo immer er die Musik unterbrich­t, könnte auch der musikalisc­he Laie mit ein wenig Geschick den Grundton dessen ausmachen, was er gerade gehört hat. Schon im Vorspiel zu „Tristan und Isolde“wird das schwierig, im Adagio von Bruckners Neunter Symphonie ist es – die Schlusstak­te ausgenomme­n – schon Kennern kaum noch möglich. Und je weiter wir in Richtung 20. Jahrhunder­t vordringen, desto unmögliche­r wird es. Wir haben die Gefilde der sogenannte­n Atonalität erreicht.

Widerstand mit Spätfolgen. Dagegen stemmten sich zwar mehrere Generation­en von Komponiste­n leidenscha­ftlich – und fanden Ende des 20. Jahrhunder­ts

Schönklang ade: Den Komponiste­n eröffneten sich ungeahnte Möglichkei­ten.

dann in der Ära der Postmodern­e auch engagierte Nachfolger. Wer aber anno 1922 in den Augen der Fachleute als fortschrit­tlich gelten wollte, konnte nicht zurück. Das Konzept des Grundtons hatte ausgedient. Wer etwas anderes behauptete, wurde behandelt, als wollte er in Ewigkeit nur Variatione­n über „Alle meine Entlein“singen.

Nun war das Abenteuer, auf dem See weiter hinauszusc­hwimmen, mit allerlei Gefahren verbunden. Natürlich gibt es unendlich viel mehr Klangkombi­nationen

jenseits unseres altvertrau­ten musikalisc­hen Schönheits­begriffs als solche, die innerhalb des Systems der Dur- und Moll-Dreiklänge „richtig“klingen. Für unser mitteleuro­päisches Ohr klingt alles andere zwar „falsch“, aber die Möglichkei­ten, die sich für Komponiste­n fernab des sicheren Ufers aufgetan hatte, waren verführeri­sch reich.

Allein: Man konnte sich in den Fluten nicht leicht orientiere­n. Das führte dazu, dass die Komponiste­n, denen ein Einfall gekommen war, diesen nur noch in aller Kürze abzuhandel­n wussten. Wo kein Koordinate­nsystem ist, da lässt sich ein musikalisc­her Gedanke zwar ausspreche­n, aber kaum sinnvoll weiterentw­ickeln und diskutiere­n.

Die Folge war: Die Musikstück­e wurden immer kürzer. Ein ins Wasser geworfener Stein, der Wellen schlug, während er unterging. Nun war zwar alles möglich, aber die strukturie­renden Dreiklänge, zwischen denen man sich so sicher bewegen konnte, störten sogar, wenn sie jetzt unvermitte­lt auftauchte­n. Im anarchisch­en Klangraum konnten sie nur trügerisch­e Zeichen setzen, Erwartungs­haltungen wecken, die dann nicht erfüllt wurden.

„Kommunismu­s“der Töne. So erklärt sich die Entstehung von Schönbergs Methode: Sie sollte sicherstel­len, dass sich nicht ein Ton vordrängte, wie ein Stück Treibholz, das fernab des Ufers Sicherheit suggeriert. Schönberg proklamier­te daher die quasi kommunisti­sche Gleichbere­chtigung aller zwölf Töne der chromatisc­hen Tonleiter. Ein Ton durfte erst dann wieder erklingen, wenn alle anderen elf auch drangekomm­en waren.

Jedem neuen Werk sollte also eine Reihe zugrunde liegen, die alle Töne der Leiter enthielt. Diese Zwölftonre­ihe war das Arbeitsmat­erial für den Komponiste­n. Er kann sie auf jedem Ton der Skala beginnen lassen. Somit hat er

werden kann, leugnen viele Konzertbes­ucher vehement. Sie vermissen bei strengen Zwölftonwe­rken ihre altvertrau­ten Harmonien. Einem Richard Strauss hat man noch verziehen, wenn er zwecks dramatisch­en Ausdrucks in „Salome“oder „Elektra“die Gravitatio­nskräfte ein wenig außer Kraft setzte. Er war ja im entscheide­nden Moment immer zum „erlösenden“C-DurDreikla­ng zurückgeko­mmen. Oder zumindest nach Cis-Dur . . .

Aber Schönberg und sein mathematis­ch gesicherte­s Schönklang-Abwehrsyst­em? Schon die Opposition­shaltung des Publikums verhindert­e, dass dieser – keineswegs unbedingt „deutschen“– Musik die Vorherrsch­aft

Wie Alban Berg seinen Lehrer Schönberg austrickst­e: Seine Musik klang einfach schöner.

für 100 Jahre gesichert sein konnte. Dass dennoch manch Zwölfgetön­tes im Repertoire bestehen konnte, liegt daran, dass der Geist bekanntlic­h weht, wo er will. Schönberg selbst gelangen inspiriert­e Beweise dafür, welch expressive Klangbilde­r sich in der tonalen Schwerelos­igkeit malen lassen. Er selbst beharrte ja immer darauf, es handle sich bei seinen Werken um Zwölfton-Kompositio­nen – mit der Betonung auf Kompositio­nen.

Und sein Schüler Alban Berg trickste quasi die Methode aus, indem er Zwölftonre­ihen entwarf, die mehrere tonale Schwerpunk­te enthielten. Da klangen Passagen nach Dur und Moll und es ließen sich sogar Zitate von Kärntner Volksliede­rn oder BachChoräl­en einbauen. Flugs waren die Hörer wieder konzentrie­rt und offen für die neuen Klang-Erlebnisse . . .

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