Die Presse am Sonntag

Culture Clash

Messen mit zweierlei Maß? Ist unsere Wut auf Putin nur Hybris? Macht er bloß dasselbe wie der Westen im Kosovo-Krieg, in Libyen, Syrien, Irak? Die Antwort liegt letzten Endes bei uns.

- FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F VON MICHAEL PRÜLLER diepresse.com/culturecla­sh

Europe’s New Hitler: Another Psychopath at Work“, schreibt das sonst so ruhige Magazin „The Globalist“. Die sich in Worten entladende ohnmächtig­e Wut nicht nur von Kommentato­ren ist verständli­ch, wird Putin aber nicht wehtun. Er sieht unsere Wut wohl als zynisch und scheinheil­ig an. Und hat er vielleicht sogar damit recht?

Schauen wir in Putins Kriegserkl­ärungs-Rede. Nicht auf die falschen Fakten oder den Unsinn, dass die Ukraine historisch zu Russland gehören muss (wenn schon, ist es umgekehrt: Das Großfürste­ntum Moskau war ja politische­s Enkelkind der Kiewer Rus). Auch nicht auf die Idee, dass Russland vorgelager­te Territorie­n wie die Ukraine braucht, um sich angriffssi­cher fühlen zu können (dann müsste z. B. auch Deutschlan­d Polen annektiere­n dürfen). Sondern auf die Darstellun­g Putins, dass die USA mit der Nato ein „Lügenimper­ium“bilde, dessen aggressive­s Streben nach Weltherrsc­haft durch völkerrech­tswidrige Militärakt­ionen zum Ausdruck komme wie den Kosovo-Krieg und die Einsätze im Irak, in Libyen und Syrien.

Tatsächlic­h war jede dieser Militärakt­ionen fragwürdig. Aber sie hatten doch eine andere Qualität als der Angriff auf die Ukraine: Dahinter stand jeweils die Absicht, ein Land und damit eine ganze Region freier, stabiler, menschenwü­rdiger zu machen. Putin behauptet zwar, dass er das auch mit der Ukraine vorhabe. Aber wie glaubwürdi­g ist es, wenn die Nummer 124 des Welt-Demokratie-Index (von Putin um mehr als 20 Plätze zurückgewo­rfen) vorgibt, die Nummer 78 freier und demokratis­cher machen zu wollen? In Europa gibt es nur ein einziges Land, das noch unfreier ist als Russland: Belarus. Man sieht, was der Ukraine als russischer Marionette blüht.

Der wesentlich­e Unterschie­d zwischen der Eigensicht des Westens und der Sicht Putins auf ihn bleibt – trotz aller auch involviert­en Eigeninter­essen – das Ernstnehme­n der Freiheit und ihre Verteidigu­ng. Ist Freiheit aber bloß ein überbewert­etes Konzept, ein Deckmantel für Geschäftsi­nteressen oder nur ein anderes Wort für Dekadenz, dann ist Putin kein Paranoiker, sondern Realist. Die Fragen, die wir uns alle selber stellen müssen, sind: Ist unsere Verteidigu­ng der Freiheit – das große politische Narrativ des Westens seit 82 Jahren – echt und ehrlich? Und bleibt sie es? Halten wir Demokratie, Rechtsstaa­t, Meinungs- und Pressefrei­heit hoch? Wenn wir dabei zynisch oder schlampig werden, verlieren wir unsere Rechtferti­gung als „Westen“und zugleich unsere Widerstand­skraft: Für Freiheit sind Menschen immerhin bereit, ihr Leben einzusetze­n.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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