Culture Clash
Messen mit zweierlei Maß? Ist unsere Wut auf Putin nur Hybris? Macht er bloß dasselbe wie der Westen im Kosovo-Krieg, in Libyen, Syrien, Irak? Die Antwort liegt letzten Endes bei uns.
Europe’s New Hitler: Another Psychopath at Work“, schreibt das sonst so ruhige Magazin „The Globalist“. Die sich in Worten entladende ohnmächtige Wut nicht nur von Kommentatoren ist verständlich, wird Putin aber nicht wehtun. Er sieht unsere Wut wohl als zynisch und scheinheilig an. Und hat er vielleicht sogar damit recht?
Schauen wir in Putins Kriegserklärungs-Rede. Nicht auf die falschen Fakten oder den Unsinn, dass die Ukraine historisch zu Russland gehören muss (wenn schon, ist es umgekehrt: Das Großfürstentum Moskau war ja politisches Enkelkind der Kiewer Rus). Auch nicht auf die Idee, dass Russland vorgelagerte Territorien wie die Ukraine braucht, um sich angriffssicher fühlen zu können (dann müsste z. B. auch Deutschland Polen annektieren dürfen). Sondern auf die Darstellung Putins, dass die USA mit der Nato ein „Lügenimperium“bilde, dessen aggressives Streben nach Weltherrschaft durch völkerrechtswidrige Militäraktionen zum Ausdruck komme wie den Kosovo-Krieg und die Einsätze im Irak, in Libyen und Syrien.
Tatsächlich war jede dieser Militäraktionen fragwürdig. Aber sie hatten doch eine andere Qualität als der Angriff auf die Ukraine: Dahinter stand jeweils die Absicht, ein Land und damit eine ganze Region freier, stabiler, menschenwürdiger zu machen. Putin behauptet zwar, dass er das auch mit der Ukraine vorhabe. Aber wie glaubwürdig ist es, wenn die Nummer 124 des Welt-Demokratie-Index (von Putin um mehr als 20 Plätze zurückgeworfen) vorgibt, die Nummer 78 freier und demokratischer machen zu wollen? In Europa gibt es nur ein einziges Land, das noch unfreier ist als Russland: Belarus. Man sieht, was der Ukraine als russischer Marionette blüht.
Der wesentliche Unterschied zwischen der Eigensicht des Westens und der Sicht Putins auf ihn bleibt – trotz aller auch involvierten Eigeninteressen – das Ernstnehmen der Freiheit und ihre Verteidigung. Ist Freiheit aber bloß ein überbewertetes Konzept, ein Deckmantel für Geschäftsinteressen oder nur ein anderes Wort für Dekadenz, dann ist Putin kein Paranoiker, sondern Realist. Die Fragen, die wir uns alle selber stellen müssen, sind: Ist unsere Verteidigung der Freiheit – das große politische Narrativ des Westens seit 82 Jahren – echt und ehrlich? Und bleibt sie es? Halten wir Demokratie, Rechtsstaat, Meinungs- und Pressefreiheit hoch? Wenn wir dabei zynisch oder schlampig werden, verlieren wir unsere Rechtfertigung als „Westen“und zugleich unsere Widerstandskraft: Für Freiheit sind Menschen immerhin bereit, ihr Leben einzusetzen.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.