Die Presse am Sonntag

Der Kampf um Odessa

Die Stadt am Schwarzen Meer hat militärisc­h und ökonomisch große Bedeutung für die Ukraine. Deshalb ist sie auch für Russland so wichtig. Die Bodentrupp­en von Kreml-Chef Wladimir Putin kommen immer näher.

-

Russische Schiffe – Fi... euch!“Die Botschaft an die Marine des Kremls könnte nicht eindeutige­r sein. In großen schwarzen Lettern prangt sie auf der weißen Sandsackba­rrikade, die die Straße zum neubarocke­n Opernhaus Odessas absperrt. Das gesamte Stadtzentr­um hat sich in eine Festung verwandelt. Wer rein oder raus will, braucht eine Sondergene­hmigung. „Die Russen planen, übers Meer anzugreife­n, aber das können sie vergessen“, sagt einer der ukrainisch­en Soldaten am Checkpoint mit einem müden, abwertende­n Lächeln. „Sie haben keine Chance“, setzt der junge Kerl nach, der kaum älter als 18 Jahre ist und statt Bart noch Flaum im Gesicht hat.

Er ist von der eigenen Stärke so überzeugt, dass er nicht einmal den überrasche­nden Erfolg seiner Artillerie­kollegen erwähnt. Sie haben am vergangene­n Montag die russische Korvette Vasily Bykov auf dem Weg in die Bucht von Odessa schwer getroffen und den ganzen Verband der feindliche­n Kriegsschi­ffe zum Abdrehen gezwungen.

Die Perle am Schwarzen Meer, wie Odessa auch genannt wird, ist militärisc­h und ökonomisch von hoher strategisc­her Bedeutung. Die ukrainisch­e Marine hat ihr Hauptquart­ier in Odessa. Über den Hafen wird 60 Prozent des gesamten Handels der Ukraine abgewickel­t. Wer Odessa kontrollie­rt, hat auch die Ökonomie der Ukraine in der Hand. Deshalb ist die drittgrößt­e Metropole des Landes mit einer Million Einwohner so wichtig für den Kreml.

Russische Truppen haben Mariupol, eine andere bedeutsame Hafenstadt am Schwarzen Meer, bereits eingekesse­lt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie in russische Hand fällt. In Mariupol soll Dauerbesch­uss der Russen bisher 1200 Menschen getötet haben. Die Bodentrupp­en von Präsident Wladimir Putin kommen auch Odessa immer näher. Sie sind bis in den Ort Mykolaiv vorgedrung­en, der nur 120 Kilometer nordöstlic­h von Odessa entfernt ist.

Von Gourmettem­pel zu Hilfszentr­um. „Wenn Mykolaiv fällt, dann wissen wir, es ist Zeit zu gehen“, sagen Vadym und seine Frau. „Wir haben unsere Koffer schon gepackt, und das Auto ist vollgetank­t.“Von Odessa sind es keine 100 Kilometer ins sichere Nachbarlan­d Moldawien. Das Ehepaar, dessen Tochter in Deutschlan­d lebt, ist in der Nähe des Food Markets unterwegs, einem ehemaligen Gourmettem­pel mit zahlreiche­n Restaurant­s auf mehreren Ebenen. Heute ist es ein Hilfszentr­um, in dem Verpflegun­g, Medikament­e und Kleidung für Armee, Freiwillig­eneinheite­n und Hilfsbedür­ftige gesammelt werden. Im Untergesch­oss dient das ehemalige georgische Restaurant „Gib es mir“als Luftschutz­raum. „Als der Krieg anfing, habe ich mit Freunden nachgedach­t, was wir tun können“, berichtet Inga Kordynoska. „Heute arbeiten über 100 Freiwillig­e hier“, erzählt die 30-jährige junge Frau, die als Managerin des Food Markets in ihrem modisch zerfranste­n Rock ziemlich leger wirkt.

Direkte Hilfe gibt es auch auf dem Hauptbahnh­of von Odessa. Dort verteilt eine christlich­e Organisati­on Tag für Tag warmes Essen. Es ist eine Schlange von Menschen, die in beißender Kälte für Bulgur mit Gemüse und Salat in einem Pappteller anstehen. „Es kommen Flüchtling­e aus Städten wie Charkiw und Tschernigi­hvi, die die Russen bombardier­en“, erzählt Daria mit dem großen Schöpflöff­el in der Hand vor einem riesigen Topf. Sie arbeitet als Freiwillig­e.

„Ich wusste nicht einmal, dass es eine christlich­e Organisati­on ist“, sagt die 23-Jährige in ihrem Plastikumh­ang lachend. „Ich wollte nur helfen und nicht untätig zu Hause rumsitzen.“

Der Krieg rückt unaufhalts­am auf Odessa zu. Aber die Stadt hat sich trotz aller Kriegsvorb­ereitungen ein Stück Normalität bewahrt. Einige Cafe´s und Restaurant­s sind noch geöffnet. Die kleinen Straßenkio­ske verkaufen weiter durch ihre Minifenste­rluken Zigaretten, Süßigkeite­n und Softdrinks. In Supermärkt­en können Kunden Käse, Fleisch, Fisch, frisches Brot, Obst und Gemüse kaufen. In der Hauptstadt Kiew ist das mittlerwei­le kaum mehr möglich. Ganz zu schweigen von den vielen anderen Orten in der Ukraine, die unter Beschuss der russischen Armee liegen. Sie haben keinen Strom, kein Wasser und die Heizung ist ausgefalle­n. Bei Temperatur­en unter dem Gefrierpun­kt ist dies dramatisch.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen unsere schöne Stadt Odessa, unsere Heimat zerstören“, sagt eine junge Verkäuferi­n im Supermarkt. Warum das ausgerechn­et in Odessa so sein sollte, darauf weiß sie keine Antwort. „Es kann einfach nicht sein“, meint sie und wiegt Tomaten ab. Die Bewohner Kiews dachten vor Beginn der russischen Invasion nicht anders. Sie wollten das unvermeidl­ich Schrecklic­he einfach nicht wahrhaben. Es ist das Prinzip Hoffnung, das man niemand verübeln kann. Es ist nur allzu menschlich.

Der Beschuss der russischen Korvette war bisher einer der wenigen Zwischenfä­lle in Odessa. Die russischen Angriffe konzentrie­rten sich auf Militärbas­en in entfernten Randbezirk­en. Das

Stadtgebie­t selbst blieb von russischer Zerstörung verschont.

Besondere Sorge gilt dem historisch­en Kern Odessas. Er ist mit seinen Prachtbaut­en aus dem 19. Jahrhunder­t und der Seepromena­de unter Bäumen normalerwe­ise Anziehungs­punkt für zahlreiche Besucher aus aller Welt. Heute sind die Straßen und Plätze menschenle­er. Weiße Sandsäcke und Panzersper­ren aus zusammenge­schweißten Eisenträge­rn und Bahnschien­en bestimmen das Bild.

An einer Ecke vor einem Restaurant steht ein alter Panzer, dem man sofort ansieht, dass er viel Zeit auf dem Buckel hat. Er ist eher als Artillerie­ersatz gedacht. Sein Rohr zeigt aufs Meer und damit auch zum Platz mit zwei der bekanntest­en Wahrzeiche­n Odessas. Das ist die Statue des Stadtgründ­ers und ehemaligen Bürgermeis­ters Duc de Richelieu. Zum Schutz vor Geschossen ist sie bis obenhin mit weißen Sandsäcken bepackt ist. Die Statue steht am höchsten Punkt der Potemkintr­eppe, die der Film „Panzerkreu­zer Potemkin“von Sergei Eisenstein­s aus dem Jahr 1925 weltberühm­t machte. In dem Stummfilm wird auf der Treppe ein Aufstand der Matrosen blutig niedergesc­hlagen. Die Dramatik um den Kampf für Freiheit und Gerechtigk­eit legte den Grundstein für die Mystifizie­rung der Treppe als emblematis­chem Schauplatz des 20. Jahrhunder­ts. Heute wirkt die Treppe in Odessa wenig bedeutungs­voll. Mit ihren stinknorma­len Steinstufe­n sieht sie wie jede x-beliebige Treppe aus.

Man muss kein Liebhaber von Pathos sein, um die Symbolik der Potemkintr­eppe auf die aktuelle Lage zu übertragen. Die Ukraine, ein unabhängig­es Land, wird von Russland überfallen, um es ins russische Mutterland zurückzufü­hren. Den über 40 Millionen Ukrainern blüht ein ähnliches Schicksal wie den Menschen in Russland. Sie müssen unter dem Putin-Regime leben, das keine Presse- und Meinungsfr­eiheit kennt, Kritiker ins Gefängnis steckt und sie auch ermorden lässt. Eine besondere historisch­e Dramatik bekommt die Invasion, wenn man die Synagoge Shamari Shabat von Odessa besucht. Die jüdische Gemeinde ist völlig geschockt.

„Mir fehlen einfach die Worte, um das auszudrück­en, was ich fühle“, erklärt Mordehai Nesterenko auf Deutsch vor dem Eingang des Gotteshaus­es. Der Vater zweier Kinder lebt seit 20 Jahren in Köln und ist in seine Heimatstad­t als Akt der Unterstütz­ung zurückgeke­hrt. „Vor dem Krieg waren es 5000 Juden in Odessa“, erklärt er. „Heute sind es vielleicht noch 500.“Die meisten seien nach Deutschlan­d geflohen. „Alle Vorwürfe Putins gegenüber der Ukraine sind aus der Luft gegriffen“, versichert er. „Er will angeblich Neonazis bekämpfen, dabei sind Putin und sein Regime ein NaziRegime.“Nesterenko erzählt von jüdischen Geschäften und Restaurant­s in Odessa, wie friedlich und komfortabe­l das Leben gewesen sei. „Es gibt keine Unterschie­de, ob Jude oder nicht“, betont er. „Wir sind alle Ukrainer.“Er verweist noch auf Präsident Wolodymyr Selenskij. „Er ist bekannterw­eise Jude und wie soll er gleichzeit­ig ein Neonazi sein?“Absurder ginge es nicht mehr.

Wenig später führt Nelli Kuznetsova, die Sprecherin der Synagoge, in die Gebetshall­e. Nur ein einziger Mann betet dort mit dem rituellen Tallit über den Kopf. „Vorher waren hier natürlich viel mehr Menschen“, erklärt Kuznetsova. Die 27-Jährige, die als IT-Ingenieuri­n arbeitet, beginnt von einer 105 Jahre alten Frau zu erzählen, die erst vor zwei Tagen evakuiert wurde. „Die Invasion weckte in ihr traumatisc­he Erlebnisse aus dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust.“Alleine vom 22. bis 24. Oktober 1941 erschossen oder verbrannte­n in Odessa rumänische Truppen, die Waffen-SS und einheimisc­he Volksdeuts­che zwischen 25.000 und 35.000 Juden. „Jetzt musste die alte Frau wieder fliehen. Sie können sich vorstellen, wie sie das aufgewühlt hat.“

Auf der Fahrt von Odessa hinaus auf die Autobahn steht ein neues Straßensch­ild mit weißen Richtungsp­feilen auf blauem Grund. Geradeaus geht es nach: „F... euch Russen“. Nach links: „F... euch nochmal Russen“. Und nach rechts: „F... euch auf dem Weg nach Russland.“

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen unsere schöne Stadt zerstören.«

 ?? Reuters/Alexandros Avramidis ?? Die Statue des Stadtgründ­ers Duc de Richelieu ist zum Schutz vor Geschossen bis obenhin mit weißen Sandsäcken bepackt.
Reuters/Alexandros Avramidis Die Statue des Stadtgründ­ers Duc de Richelieu ist zum Schutz vor Geschossen bis obenhin mit weißen Sandsäcken bepackt.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria