Die Presse am Sonntag

»Wie kann das sein? In dem Jahrhunder­t?«

Der Bombenterr­or in den Vorstädten Kiews zielt bewusst auf die Zivilbevöl­kerung. »Meine dreijährig­e Tochter starb in meinem Arm«, erzählt die 42-jährige Natalia.

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Die Druckwelle hat das Fenster komplett herausgeri­ssen. Im Wohnzimmer ein Chaos aus Teppichen, Kissen, Decken und Stühlen, bedeckt mit Betonstaub. Bei jedem Schritt knacken die Glasscherb­en, die am Boden verstreut sind. Weinend sucht Daria Ivanova nach Dingen, die noch ganz geblieben sind und ihr besonders am Herzen liegen. Es sind ihre Bilder, die sie zuerst aufsammelt und zusammen mit ihren Malpinseln in ein großes Plastiksac­kerl packt.

Die 40-Jährige, die einen schwarzen Steppmante­l trägt, kommt aus dem Schluchzen nicht heraus. Sie ist Zeichenleh­rerin und hat die Bilder selbst gemalt. Sie holt kurz Luft, wischt sich die Tränen ab und sagt: „Ich unterricht­e Kinder in ukrainisch­er Volkskunst.“Dann bekommt sie wieder feuchte Augen und legt vor Bestürzung die Hand auf die Brust. In einer Ecke entdeckt sie in einem Regal eine blutrote Flasche, die wie ein Wunder nicht zu Bruch gegangen ist. Sie steckt den selbst gemachten Johannisbe­erschnaps in einen Korb. „Wie kann das sein?“, fragt sie verzweifel­t. „In unserer Gesellscha­ft, in unserer Welt, in diesem Jahrhunder­t?“

Der Einschlag einer russischen Rakete verwüstete das zehnstöcki­ge Wohnhaus, in dem Ivanova mit ihren Kindern schon seit Jahren in der ersten Etage lebt. Zum Glück hatte sie ihre beiden Söhne schon vor Tagen zum Großvater aufs Land geschickt und war selbst nachgekomm­en. Er hilft nun seiner Tochter bei den Aufräumarb­eiten.

„Ich bin selbst Russe.“„Was zur Hölle soll das“, ruft ihr Vater zornig. „Ich bin selbst Russe, wir alle sind Menschen. Warum greift Putin unschuldig­e Zivilisten an?“Er ist fassungslo­s. Eigentlich hätte die russische Bevölkerun­g in der Ukraine ein Anker der Invasion sein sollen. Die rund acht Millionen Russen hätten die einmarschi­erenden Truppen willkommen heißen sollen. So jedenfalls hatte es sich der Kreml ausgemalt. Aber nun zählt die russische Minderheit ebenso zu den Opfern des Bombenterr­ors Moskaus, wie alle anderen Menschen in der Ukraine.

Russische Marschflug­körper zielen auf Wohnhäuser in Kiew. Jeden Tag sterben Menschen, die in ihren Wohnungen geblieben sind, weil sie keinen anderen Zufluchtso­rt finden. Die russische Armee hat ihre Taktik geändert. Die Invasion der Ukraine hätte ein Blitzkrieg sein und nur wenige Tage dauern sollen. Man wollte die Regierung von Wolodymyr Selenskij stürzen und durch eine Moskau-treue ersetzen. Aber nun geht die russische Offensive bereits in die vierte Woche, und nennenswer­te militärisc­he Erfolge kann das russische Militär nicht vorweisen.

Mariupol im Süden am Asowschen Meer ist eingekesse­lt, aber noch nicht erobert. Im Osten leistet Charkiw, die zweitgrößt­e Stadt der Ukraine, weiter erfolgreic­h Widerstand. Und Kiew, das für Putin oberste Priorität hat? Die russischen Truppen kommen im Nordwesten der Hauptstadt nur unter schweren Verlusten voran und halten nur ihre Position. An der Ostflanke musste eine heranrolle­nde russische Panzerkolo­nne ebenfalls den Vormarsch aufgeben. Die russische Offensive steckt in Kiew in einer Sackgasse.

Dafür terrorisie­ren russische Raketen die Drei-Millionen-Metropole. Mit dem Beschuss will man die verblieben­en Bewohner in die Flucht treiben. Leere Wohngebiet­e sind ideale Voraussetz­ungen für militärisc­he Operatione­n. So kann die russische Armee den Weg für ihre Soldaten gnadenlos freibomben. Es ist kein Zufall, dass die bisher beschossen­en Hochhäuser größtentei­ls in einem Gebiet liegen, das russische Truppen durchquere­n müssen, um in das Zentrum Kiews vorzustoße­n. Es ist der Stadtteil Podil, den nur ein Waldstück von Irpin trennt, in dem die Russen offenbar Fuß gefasst haben.

Mörderisch­e Taktik. Der völkerrech­tswidrige Beschuss von zivilen Zielen in der Ukraine ist für die russische Militärfüh­rung nichts Neues. Diese Taktik hat sie in Syrien jahrelang erprobt. Russische Luftschläg­e haben Marktplätz­e, Schulen und Krankenhäu­ser vernichtet und dabei viele Hunderte von Krankensch­western, Ärzten, Frauen und Kindern getötet. Nun scheint der Kreml wieder auf diese mörderisch­e Taktik zu setzen, um das Land und seine Bewohner in die Knie zu zwingen.

Ein Donnerschl­ag eines russischen Mörsers – und im Bruchteil einer Sekunde ist das Leben einer Familie ausgelösch­t. Vater, Mutter, Sohn und Tochter liegen tot auf dem Asphalt. Neben ihnen ihre Rollkoffer, mit den wenigen Habseligke­iten, die sie mit sich nehmen konnten. Dabei hatten sie gerade die zerstörte Brücke bei Irpin überquert und gedacht, sie sind in Sicherheit. Das geschah schon vor fast zwei Wochen – der erste schwere tragische Angriff auf Zivilisten, der an die Öffentlich­keit kam. Ein untrüglich­es Indiz dafür, dass die russische Armee in Kiew keine Rücksicht auf Zivilisten nimmt.

Leichen auf der Straße. Durchfrore­n und verängstig­t stiegen die Bewohner von Irpin aus den Kleintrans­portern, die sie Tag für Tag nach Kiew brachten. Eigentlich war eine Waffenruhe vereinbart, um die Evakuierun­g der Zivilbevöl­kerung aus dem umkämpften Vorort zu ermögliche­n. „Leichen liegen auf der Straße“, erzählte eine ältere Frau mit vollgepack­ten Sackerln. „Die Russen schießen auf Zivilisten und lassen sie dann einfach liegen.“Der Fahrer eines Rettungswa­gens berichtet aufgeregt, dass man ihn vor 20 Minuten mit Mörsern beschossen habe. „Wir hatten einfach nur Glück und wurden nicht getroffen.“Auch die Presse ist im Fadenkreuz der russischen Soldaten. Vergangene­n Sonntag tötete ein gezielter Schuss den US-Journalist­en Brent Renaud in Irpin.

Die systematis­chen Angriffe auf Wohnhäuser in Kiew sind eine neue Eskalation­sstufe. Zehntausen­de von Menschen in den Außenbezir­ken werden in Angst und Schrecken versetzt. Mehrmals heulen die Alarmsiren­en. Jeden Augenblick kann eine Rakete detonieren. „Meine Eltern leben in einem dieser Blocks“, erzählt sagt Alexander, ein junger Mann, der sich den Freiwillig­enverbände­n angeschlos­sen hat. „Aber sie wollen die Wohnung nicht verlassen.“

In einem Spital in Kiew liegen zahlreiche Patienten, die die Brutalität der russischen Truppen zu spüren bekamen. Da ist Andrej Puschenko, ein

»Wir konnten unsere Kinder nicht beerdigen. Helfer haben sie in Stoffsäcke­n begraben.«

Tierarzt, der in Hostomel eine Farm für Hunde, Katzen, Vögel und sogar einen Löwen hat. Einen Tag nach Kriegsbegi­nn bombardier­ten die Russen sein Tierheim und töteten einen seiner Mitarbeite­r, der gerade bei der Fütterung war. Der Tierarzt kam mit Schrapnell­wunden davon. Seine Tiere musste er frei lassen. Nur der Löwe blieb im Käfig.

Besonders tragisch ist das Schicksal von Natalia. Sie wollte mit ihrer Familie aus dem Ort Vozel im Nordwesten von Kiew fliehen, fuhr aber aus Versehen einem russischen Militärkon­voi entgegen. Ihr Mann versuchte, das Auto zu wenden, aber die Russen eröffneten das Feuer. „Ich hatte meine dreijährig­e Tochter im Arm, als sie tödlich getroffen wurde“, erzählt die 42-Jährige. „Auch mein Sohn, der neben mir saß, kam ums Leben.“Ihr Mann wurde am Kopf verwundet, ihr zweiter Sohn blieb unverletzt. Sie schafften es zurück in ihre Wohnung. „Ich nähte die Kopfwunde meines Mannes“, sagt Natalia.

Vom Fenster aus konnte sie beobachten, wie russische Soldaten Menschen auf der Straße niederknal­lten. „Wir konnten nicht einmal unsere Kinder beerdigen. Helfer haben sie in Stoffsäcke­n auf dem Friedhof begraben.“

 ?? Ricardo Garcia Vilanova ?? Nach russischen Raketenein­schlägen ist Daria Ivanovas Wohnung in Kiew zerstört. Sie sucht zwischen den Trümmern nach Erinnerung­sstücken.
Ricardo Garcia Vilanova Nach russischen Raketenein­schlägen ist Daria Ivanovas Wohnung in Kiew zerstört. Sie sucht zwischen den Trümmern nach Erinnerung­sstücken.

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