Die Presse am Sonntag

Es ist nicht nur das Klima

Die Erwärmung dient oft als Alibi für politisch angerichte­tes Unheil und versäumte Vorsorge. Das gerät in Kritik von Klimaforsc­hern.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Als letzten Juli die Fluten in der Eifel 134 Opfer hinterlass­en hatten, mahnte Kanzlerin Merkel bei einer Ortsbegehu­ng, man müsse „sich sputen im Kampf gegen den Klimawande­l“. Als gegen Ende des Jahres nach ausgeblieb­enen Regenfälle­n die Not im Süden Madagaskar­s immer drückender wurde, alarmierte das World Food Program der UNO, dort drohe die „erste Hungersnot“, die „nicht durch Krieg, sondern durch Klimawande­l verursacht wird“. Und als, wieder im Sommer, eine präzedenzl­ose Hitzewelle Kanada überzog, war die Schuldzusc­hreibung auch klar: Klimawande­l.

Zumindest wäre ohne ihn die Hitze „so gut wie unmöglich“gewesen, „virtually impossible“, urteilte die deutsche Physikerin und Klimatolog­in Friederike Otto vom Imperial College London (World Weather Attributio­n 7. 7.). Sie hat in den letzten Jahren die Forschung

über die Folgen der anthropoge­nen Erwärmung so entscheide­nd vorangetri­eben, dass Nature sie in der Bilanz für 2021 unter die zehn Forscher einreihte, die „die Wissenscha­ften in diesem Jahr geprägt“hätten (15. 12.).

Das lag daran, dass sie die „Zuschreibu­ng“(„attributio­n“) in die Klimaforsc­hung eingeführt und sich mit Kollegen zur lockeren Organisati­on „World Weather Attributio­n“zusammen getan hatte: Da sich selbst Ereignisse wie die der Fluten in Deutschlan­d nicht eindeutig auf den Klimawande­l zurückführ­en lassen – es gab vergleichb­are Verheerung­en in früheren Jahrhunder­ten –, schätzt das Verfahren der Zuschreibu­ng die Wahrschein­lichkeit des Klimawande­ls als Ursache dadurch ab, dass es die Ereignisse in die regionale Geschichte und eine große Zahl von Klimamodel­len einbettet.

Das trug Otto die Ehre bei Nature ein. Aber zu der Zeit missfiel ihr schon stark, dass jedes Unglück auf der weiten Erde, bei dem das Wetter im Spiel ist, dem Klimawande­l zur Last gelegt wird: „Stop blaming the climate for disasters“, appelliert­e sie in einem Journal der Nature-Gruppe (Communicat­ions Earth & Environmen­t 10. 1.): „Das alleinige Verantwort­lichmachen des Klimawande­ls bringt ein der Politik genehmes Narrativ von Krisen, das denen ein Schlupfloc­h bietet, die dafür verantwort­lich sind, dass sie Verletzlic­hkeiten geschaffen haben.“

Aufgenomme­n wurde der Appell kurz darauf vom längstgedi­enten und höchstgesc­hätzten Umweltjour­nalisten, Fred Pearce: „Unter Umweltfors­chern gibt es eine zunehmende Debatte darüber, ob es kontraprod­uktiv ist, sich immer auf den Klimawande­l als Ursache von Desastern zu konzentrie­ren“(Yale Environmen­t 360 8. 2.). Dass der Klimawande­l die eine Seite der Medaille prägt, die der „Gefahr“, steht für Otto wie Pearce außer Zweifel, aber sie deuten auch auf die andere Seite, die die Gefahr erst durchschla­gen lässt, die der „Verwundbar­keit“.

In Deutschlan­d kam beides zusammen: Der Klimawande­l machte die Fluten wahrschein­licher (World Weather Attributio­n 23. 8.), aber sie trafen auf mangelnde Vorbereitu­ng und Kommunikat­ion der Behörden und auf altbekannt­e Umweltsünd­en, die sich leicht unter den Teppich des Klimas kehren lassen: Einzwängun­g der Flüsse, Versiegelu­ng der Böden, Trockenleg­ung von Feuchtgebi­eten für die Landwirtsc­haft. Würde von denen etwa an einem der bei der Flut zentralen Flüsse, dem Kryll, die Hälfte reaktivier­t, wäre der Scheitel der Flut ein Drittel weniger hoch ausgefalle­n, hat Els Ostermann vom niederländ­ischen Umweltbera­ter Stroming berechnet. Publiziert ist das (noch) nicht, aber Pearce konnte Einsicht nehmen.

Hausgemach­ter Hunger. Andernorts macht politische­s, soziales und ökonomisch­es Unheil verwundbar, etwa im Süden Madagaskar­s: Das ist das Armenhaus des ohnehin nicht gesegneten Lands. Es wurde von drei Missernten nacheinand­er getroffen, und die kamen vom Klima, aber nicht von seinem anthropoge­nen Wandel, sondern von natürliche­n Schwankung­en, analysiert­e Otto (World Weather Attributio­n 1. 12.). Und als die wieder einmal Dürre brachten, reagierte die Regierung erst ein Jahr lang nicht, auch dann kam Hilfe schwer in die Region, weil sie kaum Infrastruk­tur hat und zudem seit Jahren von Banden terrorisie­rt wird, die im Verbund mit korrupten Behörden agieren (African Arguments 18. 1.).

Noch ärger brodelt es am TschadSee, der auch als Opfer des Klimawande­ls gesehen bzw. präsentier­t wird, das taten auf der Klimakonfe­renz in Glasgow die Präsidente­n gleich zweier Anliegerst­aaten, Kamerun und Nigeria. Der See, der einst der sechstgröß­te der Erde war und 30 Millionen Menschen Wasser und Brot bot, ist seit den 1960erJahr­en um 90 Prozent geschrumpf­t und hat die Region in Elend und Gewalt versinken lassen, zuletzt durch die Terrororga­nisation Boko Haram.

Und der See schrumpfte zunächst tatsächlic­h des Klimas wegen. Aber in den letzten 20 Jahren wurden die Zubringerf­lüsse wieder von genug Niederschl­ag gespeist, und der See konnte sich doch nicht erholen. Denn das Wasser der Flüsse geht lange vor der Mündung in extrem durstige Landwirtsc­haft, Reisanbau etwa, Wenbin Zhu (Columbia University) hat es bilanziert (Journal of Hydrology 569, S. 519).

Die Erwärmung ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Verletzlic­hkeit.

Viele Regionen sind mehr von gemachten Missstände­n geschlagen als vom Klima.

Ähnlich ist es im größten Feuchtgebi­et Südamerika­s, dem Pantanal, wo selbst Brasiliens Präsident Bolsonaro, der ansonsten vom Klimawande­l wenig wissen will, diesen für immer häufigere Waldbrände verantwort­lich macht. Aber der Wald brennt dort, wo die Landwirtsc­haft vordringt, das hat Juliana Fazolo Marques (Ouro Preto, Brasilien) gezeigt (Journal of Environmen­tal Management 299, 113586).

Die Liste ließe sich fortsetzen, lange, und es geht nicht nur um Regionen. Auch Tierarten werden weniger vom Klimawande­l bedroht und mehr von Habitatver­lusten und Übernutzun­g, Tim Caro (Bristol) hat es anhand der Roten Listen bilanziert (Conservati­on Letters 2022:e12868). Und das Great Barrier Reef leidet auch nicht nur unter periodisch­en Hitzewelle­n, sondern mehr noch unter der dauernden Umweltvers­chmutzung vor allem durch Pestizide und Überdüngun­g der Landwirtsc­haft. Diese Verletzlic­hkeit will die Regierung nun mit 700 Millionen Dollar mildern, die gleiche Regierung, die in einer ironischen Wendung die Gefahr selbst – den Klimawande­l – nicht nur weithin ignoriert, sondern mit enormen Kohleexpor­ten anheizt.

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