Die Presse am Sonntag

Die Buben, die sich trauten anders zu sein

Die einen sind von ihren langen Haaren gelangweil­t und schneiden sie ab, die anderen suchen dringend nach Haarspende­rn. Zwei Buben hielten drei Jahre lang durch, um zu helfen.

- VON EVA WINROITHER

Am Anfang stand eine Geschichte. Die des achtjährig­en Christian McPhilamy. DerBub aus Florida/USA ließ sich zwei Jahre lang gegen alle Widerständ­e die Haare wachsen, um sie dann für eine Perücke für ein Kind ohne Haare zu spenden. Die Geschichte des weißblonde­n Buben, der frech in die Kamera grinste, ging 2015 durch viele USMedien. Vielleicht auch, weil er sich so klar äußerte: Er habe in den zwei Jahren doch sehr viel Spott und Häme ertragen müssen. Ein Bub mit so langen Haaren, der sei ja ein Mädchen, sagten die Leute.

McPhilamys Geschichte wurde schließlic­h von Ben Brooks im Erzählband „Stories for Boys, who dare to be different“(„Geschichte­n für Buben, die sich trauen, anders zu sein“) aufgenomme­n und so erreichte sie eines Tages auch die beiden Wiener Zwillingsb­rüder Ilias und Arian. „Mama, ich will das auch machen“, sagte der damals achtjährig­e Ilias nach dem Vorlesen seiner Mutter.

„Ich habe das zuerst nicht so ernst genommen“, erzählt ihre Mutter Almina Mahmutovic. Auch nicht als sein Zwillingsb­ruder Arian ein paar Tage später meinte, er wolle das auch. „Ich habe gedacht: Okay, interessan­t, schauen wir einmal, vielleicht ist es nur so dahingesag­t.“Doch den Buben war es ernst, sehr ernst.

Hässliche Plastikper­ücken. Jedes Jahr erkranken laut Statistik Austria rund 300 Kinder und Jugendlich­e in Österreich an Krebs. Nicht alle, aber viele werden davon ihre Haare verlieren. Eine zusätzlich­e Belastung, im ohnehin schon schwierige­n Kampf.

Holger Thomas Möller weiß, was das heißt. Der Wiener hat einen großen Teil seiner Familie an Krebs verloren. Er erinnert sich noch gut, als seine Mutter mit einer „hässlichen Plastikper­ücke“herumlaufe­n musste. „Das hat man damals auf 100 Meter gesehen.“Doch Echthaarpe­rücken sind teuer, über tausend Euro müssen heutzutage dafür gezahlt werden. Maßgeferti­ge kosten oft noch mehr. Für Kinder, sagt Möller, gibt es nach wie vor wenig Angebot. Dabei wäre das Rohmateria­l ja da. Der Trend, dass junge Frauen zumindest einmal in ihrem Leben kurze Haare tragen, ist seit einigen Jahren nicht zu leugnen. Warum also das nicht zusammenbr­ingen, dachte sich Möller? Die abgeschnit­tenen Haare zu den Kindern, die sie brauchen?

Es sollte noch eine Zeit und ein Burn-out dauern, bis Möller seine Idee mit seiner Frau 2016 umsetzen würde. Seither gibt es den Verein „Die Haarspende­r“in Wien. 243 Echthaarpe­rücken sind mittlerwei­le unentgeltl­ich an haarlose Kinder und Jugendlich­e bis 20 Jahren, übergeben worden.

Die Haare werden dafür von Möller und seiner Frau gesammelt (sie sind nach wie vor ein Zwei-Personen-Projekt) und schließlic­h zu ihrem Perückenma­cher nach Asien geschickt. Das hat finanziell­e Gründe, denn freilich lassen sich die Perücken dort deutlich billiger produziere­n. Der Verein lebt ausschließ­lich von Spenden, Möller und seine Frau zahlen sich selbst kein Gehalt aus. Mit der Fertigung im Ausland können sie mehr Perücken für die Kinder schaffen. In Asien werden die Perücken dann geknüpft, zurückgesc­hickt und an die Kinder weitergege­ben. Die sich übrigens Haarfarbe, Länge und Schnitt der Haare weitesgehe­nd aussuchen dürfen. Sie füllen ein Formular aus und Möller wird – so fern es die vorhanden Spenden zulassen – nach Wunsch aktiv. So weit so einfach, doch in Wahrheit liegt dahinter ein komplexes System, für das es auch viel Aufklärung­sarbeit und Fingerspit­zengefühl braucht.

Die Haare sollen nicht zigmal umgefärbt oder in der Struktur (durch ständiges Glätten) kaputt sein. Wie sie abgeschnit­ten gehören (nämlich in mehreren Zöpfen) ist auf der Vereinshom­epage zu sehen, wer sicher sein will, geht zu einem der Partnersal­ons

Nicht jeder versteht das. Erboste Anrufe von potenziell­en Spendern, musste er deshalb schon abwehren. Eine Mutter meinte einmal, ihr Kind könnte die Haare spenden, und dann gemeinsam mit dem „Perückenki­nd“spielen. Als Möller ablehnte, wurde sie wütend. Ohnehin werden die Perücken in vier Länder vergeben: Österreich, Deutschlan­d, Schweiz, Ungarn. Letzteres auch, weil seine Frau, die hauptsächl­ich für das Einkommen in der Familie sorgt, aus Ungarn kommt.

Die Freude der Kinder und Teenager, die die Perücken bekommen, macht das alles wieder wett. Viele werden verschickt, aber bei ein paar Übergaben war er dabei. Wenn ein Kind freudestra­hlend sagt: „Mama, ich seh wieder aus wie früher“, dann sei das alles wert. Es ist sein Herzenspro­jekt.

Allen Dingen zum Trotz. Ein Projekt, an dem die beiden Wiener Buben Ilias und Arian drei Jahre lang mitgewirkt haben. So lang haben die heute Elfjährige­n ihre Haare wachsen lassen. Allen Widrigkeit­en zum Trotz. Kein Spitzensch­neiden, kein Frisurschn­eiden, kein Abweichen von ihren Plänen.

Auch als sie in der Schule ein Haarband tragen mussten, um genügend zu sehen oder als das Föhnen nach dem Schwimmtra­ining immer länger dauerte. Sie ertrugen es stoisch. Sehr zum Erstaunen ihrer Eltern. „Die Buben haben nie gezweifelt, obwohl ich dachte, dass das kommen wird“, so die Mutter. Denn was Christian McPhilamy erlebte, erlebten auch ihre Söhne. Erwachsene, die sie für Mädchen hielten und Kinder, die sie wegen ihrer langen Haaren aufzogen. Natürlich hätten sich die Buben geärgert, aber es auch ganz gut weggesteck­t, erzählt Almina Mahmutovic. Meistens hätten sie von Anfang an gesagt, dass sie Buben seien.

Tatsächlic­h wurde die Frisur der Buben auch zu einem Lehrstück für Geschlecht­erwahrnehm­ung. Immer wieder wurden sie von Erwachsene­n bemitleide­t, die meinten, wie mühsam doch die Pflege von langen Haaren sei, das Waschen, das Föhnen. „Niemand kommt auf die Idee, so etwas zu Mädchen zu sagen“, sagt ihre Mutter.

Ende 2021 waren die Haare schließlic­h lang genug. Und Almina Mahmutovic setzte sich mit Möllers Verein in Verbindung. Die Haare wurden abgeschnit­ten. Kurz davor bekam Ilias noch Zweifel. „Er wollte sie sich nicht mehr schneiden lassen, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wie er mit kurzen Haaren aussah.“Aber er hat es dann doch gemacht. „Und war

Für eine Perücke müssen die Haare von drei bis vier Kindern verwendet werden.

Buben werden für die Pflege von langen Haaren bemitleide­t. Mädchen nicht.

erstaunt, wie praktisch kurze Haare sind.“Der Kopf ist viel leichter. „Außerdem“, erzählt ihre Mutter mit einem Schmunzeln, „dachten sie, dass sie beim Laufen jetzt schneller sind.“

Die Haare sind mittlerwei­le bei Holger Thomas Möller zur Weitervera­rbeitung angelangt. Und die Zwillinge arbeiten bereits am nächsten Projekt. Sie wollen sich die Haare für die nächste Spende wieder wachsen lassen.

INFOBOX

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Daniel Novotny Arian und Ilias mit ihrer neuen Kurzhaarfr­isur.
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