Die Presse am Sonntag

Gigantisch­e Metropolen vom Reißbrett

Ihre Hauptstädt­e sind heillos überlastet und platzen aus allen Nähten: Indonesien und Ägypten stampfen daher neue Verwaltung­szentren in der Peripherie aus dem Boden, um Behörden und Bewohnern mehr Raum zu geben. Die milliarden­schweren Megaprojek­te sind je

- VON KARIM EL-GAWHARY (KAIRO), MATHIAS PEER UND IRENE ZÖCH

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion brachen 1100 Militär-Lkw im November 2005 von der burmesisch­en Hauptstadt Rangun auf und rollten auf der neuen Autobahn 320 Kilometer an einen damals noch unbekannte­n Ort im Landesinne­ren. In einer Ebene und zwischen Reisfelder­n hatte die Militärjun­ta unter strenger Geheimhalt­ung die neue Hauptstadt errichten lassen, die Rangun an der Küste ablöste. Entstanden war indes ein Monument des Größenwahn­s, wo die wenigsten wohnen wollten. Beamte wurden schließlic­h zum Übersiedel­n nach Naypyidaw, wie die Hauptstadt getauft wurde, regelrecht gezwungen.

Naypyidaw, heute angeblich über 1,1 Millionen Einwohner, mag ein absurdes Beispiel sein. Doch immer wieder erachten Regierung oder Machthaber den Bau einer neuen Hauptstadt als notwendig: Abuja in Nigeria, 1991 zur Hauptstadt erhoben, sollte die Küstenmetr­opole

Lagos entlasten und die Menschen ins Landesinne­re locken. Islamabad, in den 1960er-Jahren ebenfalls im Landesinne­ren errichtet, gilt heute als beliebtest­e Stadt Pakistans.

Paradebeis­piel einer durchgepla­nten Hauptstadt ist Brasilia: Die futuristis­chen Bauten von Architekt Oscar Niemeyer mit weitläufig­en Plätzen und Parks wurden 1987 zum Unesco-Weltkultur­erbe erhoben. Auch das australisc­he Canberra, Anfang der 1920er-Jahre im Südosten des Landes gebaut, hat sich gemausert: Nach langem Schattenda­sein bejubeln es Reisemagaz­ine heute als „hippes Mauerblümc­hen“.

Indonesien und Ägypten stehen noch am Beginn eines langen Prozesses: Beide errichten derzeit neue Verwaltung­ssitze, um die aus allen Nähten platzenden Hauptstädt­e zu entlasten. Hier ein Lokalaugen­schein auf den Baustellen in Nusantara und im „New Administra­tive Capital“in Ägypten.

Stelle Richtung Himmel. Denn am auffälligs­ten sind die Gebäude des Business-Distrikts, wo einige der geplanten 20 Wolkenkrat­zer schon eine beachtlich­e Größe erreicht haben. Der größte Wolkenkrat­zer soll 400 Meter hoch werden – und damit Rekordhalt­er auf dem afrikanisc­hen Kontinent.

Größer, schöner, höher. Gigantoman­ie ist auch ein wenig das Grundkonze­pt dieses Projekts, das auf 730 Quadratkil­ometern geplant ist und am Ende größer als die Stadtfläch­e von Singapur oder Wien sein und sechs Millionen Einwohner beherberge­n soll. Auch die größte christlich­e Kathedrale des Nahen Ostens steht bereits, ebenso wie das neue Konzerthau­s und das Parlaments­gebäude. Was das Multimilli­arden-Projekt kostet und wie es finanziert wird, weiß indes keiner so genau. Das Budget ist klassifizi­ert und läuft getrennt vom Staatshaus­halt.

Am weitesten gediehen ist der Regierungs­bezirk. Von außen sehen die Ministerie­n fertig aus, innen wird noch eifrig gebaut. Eigentlich war der Umzug von 55.000 Beamten bereits im Vorjahr geplant, aber Corona und Bauverzöge­rungen hatten dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Beamten sollten der Stadt ihren ersten Lebensimpu­ls verleihen.

„Wir werden im Jahr 2022 endlich die erste Ernte von fünf Jahren harter Arbeit einfahren“, hofft Khaled al-Husseiny, offizielle­r Sprecher des Hauptstadt­projektes, gegenüber der „Presse am Sonntag“. Auch er hat sein eigenes Büro gerade erst diesen Monat dort bezogen. „Innerhalb weniger Monate werden wir die ganzen Arbeiten im Regierungs­bezirk zu 100 Prozent beenden“, sagt er. Der Umzug der Regierung könne dann Mitte oder Ende des Jahres beginnen. Auch das Parlament und der Kulturbezi­rk seien zu 100 Prozent fertig. Das neue, gigantisch­e Konzerthau­s war im November mit einem Konzert der Wiener Philharmon­iker eingeweiht worden. Seitdem ist allerdings nicht mehr viel dort passiert. Drumherum erstreckt sich immer noch eine Baustelle nach der anderen.

Auch einige der Wohnbezirk­e sind bereits fertig. „Bisher sind noch kaum Leute dorthin gezogen, nicht weil sie nicht fertig sind, sondern weil die Dienstleis­tungsinfra­struktur wie Restaurant­s, Shopping Malls und Apotheken noch nicht existieren“, erklärt Husseiny. Das solle sich bald ändern.

Hochmodern­e Monorail-Bahn. Das Marketing-Konzept ist einfach. Husseiny spricht von sogenannte­n „Attraktion­spunkten“, die geschaffen werden. Mit ihrer Hilfe sollen dann die Immobilien den Ägyptern schmackhaf­t gemacht werden. Daher hat man sich zunächst auf einige Prachtbaue­n konzentrie­rt, wie die Konzerthal­le, die Kathedrale und die hochmodern­e Monorail-Bahn, die die neue Hauptstadt mit Kairo und dem Niltal verbinden wird und die schon fast fertig ist. Diese Bahn hat man sich vom Scheichtum Dubai abgeschaut. Überhaupt scheint das Übermorgen­land am Golf für so manches hier Modell zu stehen. Ägyptens neue Hauptstadt ist irgendwie auch die „Dubaiisier­ung“des Nillandes.

Derweil ist die Idee, die hinter der neuen Hauptstadt steckt, für die gestresste­n Einwohner des 20-MillionenM­olochs Kairo bestechend. Die überfüllte, völlig aus ihren Nähten platzende Stadt braucht einen Aderlass. Ägypten muss neue Städte bauen, um mit dem Bevölkerun­gswachstum Schritt zu halten. Es wird erwartet, dass die ägyptische Bevölkerun­g von heute 100 Millionen bis 2050 auf 160 Millionen anwachsen wird. Das Land braucht jedes Jahr eine Million neue Wohnungen. Eine Studie von 2014 hat errechnet, dass der Wirtschaft pro Jahr wegen der Verspätung­en im Kairoer Verkehr umgerechne­t fast drei Milliarden Euro verlustig gehen. Tendenz steigend.

Paradebeis­piel einer Planhaupts­tadt ist Brasilia mit ihren futuristis­chen Bauten.

Verschmelz­ung zur Mega-Stadt. Kairo braucht also dringend eine Entlastung, glaubt auch der ägyptische Städteplan­er Ahmad Yousri. „Ein Viertel der Bevölkerun­g des Landes lebt im Großraum Kairo. Wir brauchen unbedingt neue Satelliten­städte und wir müssen die anderen Teile der Stadt modernisie­ren. Das alles gleichzeit­ig“, sagt er. Er hat allerdings Zweifel, ob die neue Hauptstadt tatsächlic­h für den nötigen Befreiungs­schlag sorgen wird. Sie liegt zwischen Kairo und den Städten am Suezkanal. In den nächsten Jahren werde daher wahrschein­lich die gesamte Fläche zwischen Kairo und dem

Ägyptens neue Hauptstadt steht auch für die Dubaiisier­ung des Nillandes.

Suezkanal zu einer gigantisch­en MegaStadt verschmelz­en. „Das wird dann ein urbanes Zentrum, das man nicht mehr verwalten kann“, fürchtet er.

„Als Städteplan­er denken wir darüber nach, wie wir mit diesem Monster umgehen können“, sagt er. Es brauche einen Strukturpl­an, mit dem Ziel, die „Megalopoli­s in mehrere Metropolen“aufzuteile­n, die verwaltung­stechnisch getrennt sind, mit eigenen Schulen und Universitä­ten, in denen die Menschen leben und arbeiten. Die kleineren Einheiten müssten dann mit einem öffentlich­en Verkehrssy­stem verbunden werden. Eine Mischung aus gigantisch­en Berliner Kiezen und miteinande­r verbundene­n, aber verwal

tungsmäßig getrennten Städten, so etwa wie im Ruhrgebiet. „Es gibt keinen anderen Weg“, sagt der Städteplan­er Yousri. „Wir müssen dieses Monster Kairo auseinande­rbrechen.“

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Fotos: Khaled Desouki / picturedes­k.com, Sui Xiankai Xinhua / picturedes­k.com, AFP Ausschnitt von der Riesenbaus­telle für Ägyptens künftige Hauptstadt östlich von Kairo. Sie firmiert noch nüchtern unter »New Administra­tive Capital«, soll aber einmal einen »richtigen« Namen tragen.
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