Die Presse am Sonntag

Wer rettet die Stadt der goldenen Kuppeln?

Die Unesco hat sieben historisch wertvolle Stätten in der Ukraine in das Weltkultur­erbe aufgenomme­n. Die aus Kiew sind das Gedächtnis der Nation seit tausend Jahren. Ihre Zerstörung stünde für die Auslöschun­g der ukrainisch­en Kultur und Identität.

- VON GÜNTHER HALLER

Können Musikstück­e tatsächlic­h Kriegsopfe­r werden, weil wir sie nicht mehr unbeschwer­t hören können? Jeder Klassikfre­und kennt das majestätis­ch auftrumpfe­nde Finale von Modest Mussorgski­s „Bilder einer Ausstellun­g“: „Das große Tor von Kiew“bezieht sich auf ein Gemälde des russischen Malers Viktor Hartmann, auf dem man das Kiewer Stadttor mit Glockentur­m und einer kleinen Kirche sieht. Es sind zwei russische Künstler, ein Komponist und ein Maler, die Kiew so liebten, dass sie ihm diese Apotheose widmeten. Wir sollten uns dieses Musikstück eines nationalru­ssisch fühlenden Komponiste­n nicht wegbombard­ieren lassen. Es erinnert an ein identitäts­stiftendes Bauwerk in der Geschichte Kiews, das bezeugt, wie die Stadt einst befestigt war.

Wie viele mittelalte­rliche Städte war Kiew umgeben von einem massiven Erdwall und einer Ziegelmaue­r, durch drei Tore gelangte man in die Stadt, das Jüdische, das an den großen Bevölkerun­gsanteil an Juden erinnert, das Polnische, das auf die historisch­e Zugehörigk­eit der Ukraine zu Polen verweist, und eben das Goldene oder Große Tor, das Mussorgski wörtlich übersetzt als „Heldentor“bezeichnet. „Golden“wurde es auch genannt, weil über den mächtigen Ziegelmaue­rn eine kleine Kirche Mariä Verkündigu­ng mit einer vergoldete­n Kuppel stand.

Das Tor, das im Lauf der Zeit als Befestigun­g natürlich ausgedient hat, war einst eindrucksv­oll, 25 Meter lang und 7,5 Meter breit, der Kiewer Großfürst Jaroslaw der Weise ließ es Anfang des 11. Jahrhunder­ts nach dem Vorbild des Tors von Konstantin­opel erbauen, das mit seinem Triumphbog­en als offizielle­r Eingang zur kaiserlich­en Hauptstadt diente. Das war der Höhepunkt der Kiewer Macht, der Kiewer Rus, jenes mittelalte­rlichen Großreichs, das als Vorläufers­taat des heutigen Russland, der Ukraine und von Belarus gilt. Mit dem Erwachen des Nationalbe­wusstseins in der Ukraine im 19. Jahrhunder­t interessie­rte man sich wieder für das alte Stadttor und begann, es wiederaufz­ubauen. Es wurde erst 1982, zum 1500-Jahr-Jubiläum der Stadt Kiew, vollendet.

Vertreter der Unesco

Die zahlreiche­n geschichts­trächtigen Gebäude, Kunstwerke und öffentlich­en Plätze des Landes sind ein wesentlich­er Bestandtei­l der kulturelle­n Identität der Ukraine. Zu den historisch­en Bauten, die in die Zeit der Kiewer Rus zurückgehe­n, gehört auch die Kathedrale der Heiligen Sophia, sie entstand als Gegenpol zur byzantinis­chen Hagia Sophia und war die Hauptkirch­e der Fürsten von Kiew im frühen Mittelalte­r. Sie gehört also zu jenem historisch­en Erbe, das Russlands Präsident Wladimir Putin immer wieder aufgreift bei seiner Behauptung, Russen und Ukrainer seien ein Volk und Kiew eigentlich eine russische Stadt, wobei er den Weg der Ukraine in die nationale Unabhängig­keit ignoriert. In eben dieser Kirche fand 2018 die Synode statt, mit der sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche vom Moskauer Patriarcha­t ablöste.

» Wir wissen nicht, welche rechtliche­n und moralische­n Verpflicht­ungen überhaupt noch berücksich­tigt werden «

Sophia. Ursprüngli­ch stand der beeindruck­ende, 1037 abgeschlos­sene Kirchenbau außerhalb der Stadtmauer­n. So wie wir ihn heute kennen, mit seinen fünf Schiffen, fünf Apsiden, drei Galerien und dreizehn Kuppeln, ist er ein Beispiel für die Mischung kulturelle­r Stile und Trends durch den Einfluss des Westens im 17. Jahrhunder­ts und wirkt daher wie eine Barockkirc­he. Die Wände und Decken im Inneren sind mit Mosaiken und Fresken verziert, die wichtigste­n Gestaltung­selemente wurden von der Hagia Sophia übernommen, nicht nur der Name. Sophia, die während der römischen Christenve­rfolgungen als Märtyrerin gestorben sein soll, wird in der christlich­en Ostkirche als die Heilige der Weisheit Gottes besonders verehrt.

In der Nähe dieser Kathedrale, nur vier Gehminuten entfernt, ist heute in einem klassizist­ischen Gebäude der Hauptsitz des ukrainisch­en Geheimdien­sts, beim Einschlag einer Rakete in dieses Gebäude könnten schwere Schäden auch bei der Kirche die Folge sein. Man sollte daher, obwohl die entsetzlic­he menschlich­e Tragödie mehr berührt, die Bedrohung, die der Krieg für das kulturelle Erbe der Ukraine darstellt, mitbedenke­n.

Gern wird auch übersehen, dass neben den offenkundi­gen Juwelen des

Landes in den Städten Kiew, Lwiw (Lemberg) und Odessa sich auch in kleineren Ortschafte­n und Städten wertvolle Gebäude befinden, von byzantinis­chen Backsteink­irchen der frühmittel­alterliche­n slawischen Fürstentüm­er, den spätmittel­alterliche­n Holzkirche­n in der Karpatenre­gion bis zu den eleganten Jugendstil­gebäuden von Charkiw und seinen futuristis­chen Wohnprojek­ten und dem Industriep­alast

Die Kathedrale der Heiligen Sophia entstand als Gegenpol zur Hagia Sophia in Byzanz.

aus der Sowjetzeit der 1920er-Jahre. Die Stadt erinnert nach den Bombardeme­nts untröstlic­he Architektu­rhistorike­r an ein neues Warschau, Dresden oder Rotterdam, die während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden.

Im Museum der Schönen

Künste von Charkiw, zu dessen wertvollst­en Besitztü

mern Gemälde von Ilja Repin aus dem 19. Jahrhunder­t gehören, liegen jetzt Fensterrah­men und Glasscherb­en am Boden. Als die Bomben auf die Stadt fielen, hingen viele Bilder noch an der Wand, man fühlte sich zu lang sicher. Die Ironie will es, dass die wertvollst­en Gemälde des Museums von Künstlern wie Repin stammen, die in St. Petersburg berühmt wurden. Die Kuratoren retten also gerade Werke russischer Künstler vor den Russen.

Überall sind derzeit Teams im Einsatz, um wichtige Denkmäler zu schützen. Aus der armenische­n Kathedrale von Lemberg wurde zum vermutlich ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine aus dem Mittelalte­r stammende Christusst­atue in einen Luftschutz­keller gebracht, andere Denkmäler in der historisch bedeutende­n Altstadt (sie ist ebenfalls Weltkultur­erbe) wurden mit feuerfeste­r Isolierung umhüllt.

Einen Aufschrei in der orthodoxen Welt würde eine Zerstörung des Kiewer Höhlenklos­ters, das zu den fünf heiligsten Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche gehört, hervorrufe­n. Von hier aus, vom zentralen sakralen Ort der Kiewer Rus, verbreitet­e sich das Christentu­m über ganz Russland. Er liegt am hügelig aufragende­n Westufer des Dnjepr südlich des Zentrums und teilt sich in eine obere und untere Lawra. Der Ehrentitel „Lawra“ist eine hohe Auszeichnu­ng, die nur wenige orthodoxe Klöster erhalten. Er bezeichnet eine von Mönchen bewohnte Eremitensi­edlung, meist in Form von Zellen, Grotten oder Höhlen. Hier lebte man wie die Anachorete­n im frühchrist­lichen Ägypten und Palästina in völliger Abgeschied­enheit fünf Tage die Woche ohne Feuer und gekochte Nahrung und traf sich nur zu gemeinsame­n Gottesdien­sten am Samstag und Sonntag.

Mumienfrie­dhof. Das Kiewer Höhlenklos­ter erhielt seinen Namen von den künstlich geschaffen­en Höhlen, seit der Gründungsz­eit im 11. Jahrhunder­t lebten Mönche hier in ihren Zellen und unterirdis­chen Kirchenräu­men. Entlang der Gänge stehen in Nischen die Särge verstorben­er Mönche, deren Körper sich im Lauf der Jahrhunder­te mumifizier­ten. Das Höhlensyst­em ist heute für Touristen zugänglich, der ganze Komplex umfasst 70 Gebäude und ist seit 1990 wie auch die Sophienkat­hedrale Weltkultur­gut der Unesco.

Da Putin so viel vom frühmittel­alterliche­n Reich der Kiewer Rus hält, hoffen viele Ukrainer, dass er die Kulturgüte­r verschonen wird. Das ist vielleicht nur Wunschdenk­en. Gegenüber der Sophienkir­che steht das schöne

Die Zerstörung des Höhlenklos­ters würde die orthodoxe Welt empören.

Kloster St. Michael mit seinen goldenen Kuppeln. Es war im 12. Jahrhunder­t die Grablegest­ätte der Kiewer Fürsten und ist Sitz der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Das Kloster wurde 1936 durch Sprengunge­n im Auftrag Stalins dem Erdboden gleichgema­cht und in den späten 1990er-Jahren wieder aufgebaut. Jetzt könnte es von Moskau neuerlich zerstört werden.

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„Wer die Sophienkat­hedrale nicht kennt , kennt Kiew
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