STECKBRIEF
Lassen Sie uns zuerst zurück an den Beginn gehen: Warum hat Russlands Präsident Putin den Überfall auf die Ukraine gewagt?
Michael Ignatieff: Putin dachte, er könne damit davonkommen. Er schätzte die Reaktion der ukrainischen Armee und des Westens falsch ein. Er war falsch informiert und glaubte seiner eigenen Propaganda, wonach die Ukraine nur darauf warte, befreit zu werden. Zudem hängt Putin schon lang dem Gedanken nach, Russland sei am Ende des Kalten Kriegs gedemütigt worden und müsse seinen Rang zurückerlangen. Putin will nicht die Sowjetunion, aber das russische Imperium wiederherstellen.
Hat der Westen Putin falsch gelesen?
Der Westen hat Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und auch die Annexion der Krim 2014 nicht in ihrer Tragweite erkannt. Der Westen war herablassend, fokussierte sich auf China und verstand nicht, dass Russland noch immer eine militärische Großmacht ist.
Was halten Sie von dem kursierenden Narrativ, dass die Nato Putin mit der Osterweiterung provoziert habe?
Die Idee, dass der Westen Putin provoziert habe und deshalb Schuld am russischen Angriffskrieg trage, ist grotesk. Die Osteuropäer bettelten um die NatoMitgliedschaft, um ihre Souveränität und Demokratie zu schützen. Und sie sind nun extrem froh darüber. Auch die Ukraine provozierte niemanden. Sie äußerte einen legitimen Wunsch nach Sicherheit. Das Problem besteht darin, dass die Nato doppeldeutige Botschaften aussandte und der Ukraine zwar eine Beitrittsperspektive gab, aber sie nie wirklich aufnehmen wollte.
Es mangelte also an Klarheit.
Die Nato hielt nicht Wort. Man sagt Ja oder Nein, wenn jemand um Sicherheitsgarantien bittet, aber nicht „vielleicht“. Diese Doppelbödigkeit hat Putin ausgenutzt.
Hätte der Westen Putin vom Überfall auf die Ukraine abhalten können?
Nicht, solang Deutschland oder auch Österreich so abhängig von russischem Gas sind. Putin setzte darauf, Europas Drohkulisse wegen dieser Energieabhängigkeit ignorieren zu können. Er nahm auch nicht an, dass wir Russlands Fremdwährungsreserven lahmlegen würden. Das ist ein außergewöhnliches Ereignis – Staaten wie China und Indien werden sich künftig Fremdwährungsreserven suchen, die nicht in Dollar oder Euro notiert sind. Das gesamte Finanzsystem steht vor einer Umwälzung. Ich unterstütze die Sanktionen, doch sie sind nicht ohne Risiko.
Werden die massiven Sanktionen Putin dazu bringen, seine Pläne zu verändern? Oder wird er den Einsatz erhöhen und eskalieren?
Er wird eskalieren. Ich denke nicht, dass die USA und die Nato je glaubten, Putin mit Sanktionen abschrecken zu können. In Washington denkt man: Das ist ein KGB-Offizier, der es gewöhnt ist, Menschen zu töten. Ein Mann auf einer Mission, der jetzt die Chance sieht, in die Geschichte Russlands einzugehen. Putin ist 69, und schon seit 22 Jahren an der Macht. Er glaubt nicht, dass ihn intern irgendjemand ernsthaft herausfordern kann. Er hat seinen inneren Zirkel eingeschüchtert und eine Kontrolle über den Machtapparat, die jener Stalins gleichkommt.
Wie kann die Eskalation des Ukraine-Kriegs aussehen, von der Sie sprechen?
Die Nato befürchtet zu Recht den Ein- satz chemischer und biologischer Waf- fen – und taktischer Atombomben, die unter dem Hiroshima-Zerstörungsgrad liegen. Das wird davon abhängen, ob die Ukrainer in der Lage sind, Territorien zurückzuerobern und ob Putin tatsächlich eine Niederlage blüht.
Wo würde Putin Massenvernichtungswaffen einsetzen, wenn es eng für ihn wird?
In der Ukraine. Putin weiß, dass die Nato bei einem Angriff auf das Territorium eines ihrer Mitgliedstaaten gemäß der Beistandsklausel in Artikel 5 NatoVertrag antworten müsste. Denn wenn die Nato nicht reagieren würde, löste sie sich einfach auf. Die Frage ist, ob dann noch irgendjemand die Eskalation kontrollieren könnte.
Das ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Die wahrscheinlichste Art der Eskalation sehen wir in Mariupol: den massiven Beschuss von Städten, mit konventionellen Raketen etwa, auch von Kiew.
Putin scheint sich von seinem ursprünglichen Ziel, Präsident Selenskij zu stürzen, verabschiedet zu haben. Es ist nicht mehr so oft von „Denazifizierung“die Rede wie am Anfang. Inzwischen beteuert Russland, die Eroberung Kiews sei nie geplant gewesen.
Putin wird die Landkarte nicht mögen, die er vor sich sieht: Seine Armee hat die großen Städte in der Ost- und Südwestukraine wie Charkiw und Odessa nicht erobert. Und deshalb glaube ich, dass er nachdoppeln und den Krieg intensivieren wird.
Ist das wirklich nur Putins Krieg, wie der deutsche Kanzler meint? Oder ist dieser Krieg ein Symptom für einen tiefer liegenden aggressiven Neo-Imperialismus in Russland?
Alexander Dugin und andere extrem nationalistische Denker haben die neoimperialistische Ideologie in Russland verbreitet. Putin ist Ausdruck dessen. Es ist möglich, dass andere hinter den Kulissen warten und übernehmen, wenn Putin scheitern sollte. Aber es bleibt Putins Krieg. Hier nimmt ein KGB-Oberst Rache für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Das geht zurück zu dieser Urszene, als Putin 1989 in einem Dresdner Hinterhof Akten verbrannte.
Wie ist es möglich, dass Putin ganz Russland als Geisel nimmt?
Weil Putin systematisch die Zivilgesellschaft zerstört und alle gekauft hat. Jeder, der über ein gewisses Maß hinaus Geld verdienen will, weiß, dass er sich dem Regime absolut fügen muss. Putin hat eine Tyrannei errichtet. Ich gehöre zu jenen, die nicht glauben, dass Russland inhärent autoritär ist. Die Tragödie, die wir erleben, hat ihre Wurzeln darin, dass Russland nicht in der Lage war, sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg und dann nach dem Fall der Berliner Mauer zu demokratisieren.
Angesichts der historischen Entwicklung könnte man zu dem Schluss kommen, dass Russland gar nicht „demokratisierbar“ist.
Ja, das könnte man. Dieses riesige Land hat eine furchtbare Tradition der brutalen und autoritären Herrschaft und eines feindlichen Verhaltens gegenüber Nachbarn. Fragen Sie in Polen nach. Aber ich halte eine Demokratisierung trotzdem für möglich.
Warum?
In diesem Krieg wird die russische Bevölkerung systematisch belogen. Aber das funktioniert nur so lang, bis die Särge der Soldaten in die russischen Gemeinden zurückkehren. Stellen Sie sich die Mutter eines Soldaten vor, die bis dahin gar nicht gewusst hat, dass Russland im Krieg ist. Das wird zu einer gewaltigen Abrechnung mit dem Regime führen. Ich weiß nur noch nicht, wann. Oder stellen Sie sich einen Soldaten vor, der merkt, dass er gar nicht wie behauptet gegen „Nazis“kämpft, sondern gegen seine Brüder. Das zerbombte Mariupol ist eine russischsprachige Stadt! Wir müssen diesen Bürgerkriegsaspekt stärker betonen und auch die moralische Anstandslosigkeit dieses Nazi-Gequatsches in Moskau benennen. Timothy Snyder hat schon darauf hingewiesen: Bisher hat es allen Respekt abgerungen, dass die Sowjetunion einst die Nazis in Europa besiegt hat. Aber das Regime jetzt schafft es, selbst dieses Andenken zu missbrauchen und in den Dreck zu ziehen.
Putins Berater Anatoli Tschubais hat sich abgesetzt. Bekommt das System erste Risse?
Tschubais war keine zentrale Figur. Man sollte das nicht zu hoch hängen. Die Invasion Russlands in der Ukraine ist das Ergebnis von 22 Jahren Tyrannei in einem Staat an der Grenze zur EU. Es hat sehr lang gedauert, bis wir verstanden haben, wie extrem gefährlich diese
1947
Michael Ignatieff kommt in Toronto (Kanada) als Sohn eines in Russland geborenen kanadischen Diplomaten auf die Welt. Sein adeliger Großvater war Bildungsminister unter Zar Nikolaus II. Nach einem Studium der Geschichte lehrte Ignatieff in Oxford, London und Harvard – und arbeitete auch als Journalist, Moderator und Romanautor. Er ist auf Russland, den Nationalismus und den Philosophen Isaiah Berlin spezialisiert.
2006
Ignatieff wird Oppositionsführer der Liberalen Partei in Kanada. 2011 scheidet er nach einer Wahlniederlage aus der Politik aus.
2016
Ignatieff wird Rektor der Central European University in Budapest, die 2019 nach Wien umsiedeln muss. Im November 2021 folgte ihm Shalini Randeria als Rektorin nach. Ignatieff unterrichtet nach wie vor in Wien.