Nach Seuche und Krieg kommt der Hunger
In Krisenzeiten haben die alten Untergangspropheten Hochkonjunktur. Die biblischen sind da keine Ausnahme. Von den vier apokalyptischen Reitern aus der Offenbarung des Johannes sind mit Seuche und Krieg die ersten beiden schon da. Und als Nummer drei klopfen Inflation und Hunger bereits laut an der Tür.
Zugegeben, der Vergleich hält nur, wenn man großzügig genug ist und die popkulturelle Umdichtung des ersten Reiters zum Seuchensymbol durchgehen lässt. Dann aber trifft die Bibelstelle den aktuellen Moment ziemlich gut. Der russische Angriff auf die Ukraine lässt nicht nur die Europäer um ihre Gaslieferungen zittern, er gefährdet auch die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die beiden Länder haben bis vor Kurzem rund zwölf Prozent aller Kilokalorien geliefert, mit denen sich die Menschheit ernährt. Vor allem im umkämpften Südosten der Ukraine liegen gute Anbaugebiete für Getreide und Ölsaaten. Ein Drittel von ihnen dürfte weitgehend zerstört sein, sodass im kommenden Jahr keine Ernte zu erwarten ist, warnt die Welternährungsorganisation FAO. Und all das nach zwei Jahren, in denen Pandemie und kaputte Lieferketten die weltweiten Agrarpreise ohnedies bereits um 40 Prozent in die Höhe getrieben haben.
Während sich Europas Konsumenten bestenfalls darüber Gedanken machen müssen, ob ihre Semmeln nun etwas teurer werden, sorgt der Engpass in anderen Teilen der Welt für existenziellere Sorgen: Indiens Bevölkerung hamstert etwa Speiseöl, da der Nachschub an ukrainischem Sonnenblumenöl ausbleibt. 2021 importierte das Land drei Viertel der 1,9 Millionen Tonnen Sonnenblumenöl aus der Ukraine. Noch verwundbarer sind die Länder in Nordafrika und im Nahen Osten. Ägypten und die Türkei sind ebenso auf Getreide aus Russland und der Ukraine angewiesen wie Jordanien, Libyen, Israel oder der Jemen. Eine Familie im Libanon muss für ihren monatlichen Lebensmittelbedarf heute dreieinhalbmal so viel bezahlen wie vor einem Jahr. Dass Dünger weltweit knapp wird, entschärft die Lage ebenso wenig, wie die Blockade der Exportrouten über das Schwarze Meer und die Ausfuhrverbote etlicher Staaten.
Mehr Flächen für die Bauern. Europas Antwort auf die drohende Versorgungskrise der Welt kam prompt – und ist hoch umstritten. 58 Milliarden Euro an Steuergeldern fließen jedes Jahr in Europas Landwirtschaft, die so zum Nettoexporteur aufgepumpt wird. Vor zwei Jahren einigten sich die EU-Länder, dem Agrarsektor im Sinn des Klimaschutzes etwas strengere Regeln aufzuerlegen. Immerhin ist die Landwirtschaft einer der weltgrößten Treibhausgasemittenten. Den Agrarministern schmeckte das nie. Sie haben schon versucht, die Pandemie zu nützen, um die Pläne abzuschwächen. Ohne Erfolg. Doch kaum war das Wörtchen Versorgungskrise ausgesprochen, rannten sie in Brüssel offene Türen ein.
„Es macht wenig Sinn, in Europa Flächen stillzulegen, wenn man damit die Hungerkrise in anderen Erdteilen befeuert“, sagt Stephan Pernkopf, Präsident des europäischen Ökosozialen Forums. Und tatsächlich ist die geplante Stilllegung von vier Prozent der europäischen Ackerflächen seit einigen Tagen wieder vom Tisch. Damit verschwindet nicht nur Brachland, sondern auch Hecken und Blühstreifen, die einerseits die Artenvielfalt erhöhen und andererseits auch das Freisetzen von CO2 verhindern.
Für Klimaschützer ist der Erfolg der Agrarlobbyisten eine Hiobsbotschaft. Nur der konsequente „Schutz von Böden, Gewässern, Biodiversität oder Klima sichert die zukünftigen Produktionsgrundlagen der Landwirtschaft und damit die Ernährungssicherung der Bevölkerung von morgen“, betonen sie in einem offenen Brief an Brüssel. Die Aktion der EU erhöhe die weltweite Getreideproduktion bestenfalls um 0,4 Prozent, rechnete die grüne Heinrich-Böll-Stiftung vor. Werde die Erderwärmung nicht gebremst, seien noch viel größere Ernteausfälle zu erwarten, warnt auch der Weltklimarat. Die Nasa sieht die globale Maisernte aufgrund steigender Temperaturen bereits 2030 um 24 Prozent einbrechen. Der Versuch, Versorgungssicherheit und Klimaschutz gegeneinander auszuspielen, greift zu kurz.
Die Standards in Europas Landwirtschaft sind hoch, kontert die Bauernschaft.
Immerhin müsse hier kein Regenwald für neue Äcker gerodet werden. Europa kann durchaus Brachflächen für den Anbau von Getreide nutzen, argumentiert auch der Brüsseler Thinktank Bruegel. Immerhin sei man nah dran an den verwundbarsten Staaten Nordafrikas. Doch es ist fraglich, ob Europas Weizen und Sonnenblumenkerne ihren Weg dorthin wirklich finden werden.
Bisher schaffen sie es nicht einmal auf die Teller der Europäer selbst. 60 Prozent des europäischen Getreides wird an Tiere verfüttert, deren Fleisch wir essen. Eine höchst ineffiziente Variante, wenn es tatsächlich darum geht, Hunger zu lindern und Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Weitere 15 Prozent der Ackerflächen liefern Pflanzen für Agrarsprit. Auch davon werden nur wenige Menschen satt. Bleibt zu hoffen, dass das Aus für mehr Klimaschutz in der Landwirtschaft kein Provisorium ist, das still und leise zur Dauereinrichtung mutiert.