Die Presse am Sonntag

Bäume, die nicht mehr in den Himmel wachsen

Mit dem Krieg in der Ukraine rückt ein bislang wenig beachtetes Bauteil in den Fokus: der Kabelbaum. Jedes Auto braucht ihn, und weil die Produktion eingebroch­en ist, stehen in den Autofabrik­en die Bänder still. Doch an Alternativ­en wird längst getüftelt.

- VON TIMO VÖLKER

Beim Münchner Lkw-Hersteller MAN sind 11.000 Mitarbeite­r in Kurzarbeit, zwei Werke stehen komplett still. Bei VW in Wolfsburg wird ab Montag, 4. April, die Produktion für zwei Wochen eingestell­t – ein in der Vergangenh­eit nahezu undenkbare­s Szenario. Nicht viel besser sieht die Situation bei Porsche, BMW, Mercedes-Benz und Ford aus.

Chipkrise? Der Mangel an Halbleiter­n besteht weiterhin und drosselt auf der ganzen Welt die Fertigung von Fahrzeugen. Doch das neue, vielleicht noch größere Ungemach bereitet der Autoindust­rie ein anderes Bauteil: der Kabelbaum. Experten schätzen, dass allein der Liefereinb­ruch dieser Komponente zu einem Ausfall von 15 Prozent der europäisch­en Fahrzeugpr­oduktion in diesem Jahr führen wird. Denn ohne Kabelbaum kann man kein Auto bauen. Und der bedeutends­te Lieferant ist ein Land, in dem gerade Bomben und Raketen niedergehe­n – die Ukraine.

Acht Kilometer Kabel. Kabelbäume stehen bei den Hersteller­n allerdings schon viel länger unter Beobachtun­g. Sie hängen mit einem besonders aufwendige­n Prozess in der Fertigung zusammen. Längst sucht man nach anderen Lösungen für die Zukunft – und da gibt es durchaus schon Durchbrüch­e zu vermelden. Aber sehen wir uns zunächst an, worum genau es sich bei dem Gewächs eigentlich handelt.

Der Begriff bezeichnet nicht mehr als zu einem Strang gebündelte Kabel. Davon gibt es in einem modernen Pkw allerdings jede Menge. Legte man alle Kabel aneinander, käme man auf eine Länge von bis zu acht Kilometern. Was daran liegt, dass heutige Autos gespickt sind mit Funktionen, die noch vor 50 Jahren als pure Science-Fiction gegolten haben. Wie ein Sitz, der, dutzendfac­h elektrisch verstellba­r, beheizt und ventiliert ist und den Rücken massiert, mit eingebaute­m Airbag und vielleicht noch mit in die Kopfstütze­n integriert­en Lautsprech­ern.

Das alles will verkabelt sein – und ist dabei nur winziger Teil eines Nervengefl­echts, von dem das Auto durchzogen ist.

Noch mehr Drähte. Der klassische Kabelbaum, Typ VW Käfer, war simpel beschaffen: Ein Kabel führt von der Batterie als Stromquell­e über die Sicherung zum Lichtschal­ter und von dort zum Scheinwerf­er. Genauso läuft es bei Blinker, Rücklicht und Autoradio, so vorhanden.

Dann zogen Steuergerä­te ein – kleine Computer, die komplexere Aufgaben übernehmen. Wenn zum Beispiel Fensterheb­er mit Türen kommunizie­ren sollen. Wozu? Für eine schlaue Einrichtun­g, um unangenehm­en Druck im Auto zu vermeiden: Beim Öffnen und Schließen der Tür wird automatisc­h das Fenster ein paar Millimeter geöffnet, um Luft entweichen zu lassen. Dazu müssen sich Fensterheb­er und Tür beziehungs­weise deren Steuergerä­te verständig­en, was sie über den sogenannte­n Can-BUS tun – der Zulieferer Bosch hat dieses System vor gut 40 Jahren entwickelt, gerade um den Auswuchs der Verkabelun­g im Auto einzudämme­n. Durch den Einzug vieler neuer Funktionen seither ist der Effekt längst verspielt. Es heißt stattdesse­n: noch mehr Drähte, die mitsamt Stecker und Verbindung­en einiges aushalten müssen, etwa Vibratione­n und extreme Temperatur­schwankung­en.

Kann kein Roboter. Spricht man gern vom Fluch der Elektronik, der Autos in einer Tour Defekte beschert, dann ist tatsächlic­h meist vom Kabelbaum die Rede, von losen Verbindung­en und korrodiert­en Steckern, die wie von Geisterhan­d Probleme verursache­n. Wie sauber bei der Verkabelun­g gearbeitet wurde, zeigt sich meist erst Jahre oder Jahrzehnte später.

Die Hersteller kiefeln an der Thematik schon lang. Vor allem, weil Kabelbäume in der Fertigung ein widerspens­tiges Bauteil sind, das sich der Automatisi­erung widersetzt. Die Kabelsträn­ge müssen per Hand eingesetzt werden, eingefädel­t durch knapp bemessene Löcher und Führungen, eine „elende Fummelei“, wie es ein Fachmann beschreibt. Und das kann kein Roboter. Die Kabelbäume werden zudem maßgeschne­idert verlegt: Je nach

Ohne Kabelbaum kann man kein Auto bauen: Die Ukraine ist der wichtigste Lieferant.

det, um schneller und billiger produziere­n zu können.

Teslas Revolution. Auch E-Autos brauchen Kabelbäume, jener des Models S kommt noch auf 3,5 km Länge. Beim Model 3 konnte dieses Ausmaß bereits auf 1,5 km verringert werden. Doch 2019 meldete Tesla ein Patent an, das im Fertigungs­prozess nicht weniger als eine Revolution darstellt. Wenn VWChef Herbert Diess immer wieder warnt, Tesla sei in der Produktion wesentlich wettbewerb­sfähiger als der eigene

 ?? ??
 ?? Werk ?? Nervengefl­echt des heutigen Autos: Kabelbaum eines Bentley Bentayga in voller Blüte.
Werk Nervengefl­echt des heutigen Autos: Kabelbaum eines Bentley Bentayga in voller Blüte.

Newspapers in German

Newspapers from Austria