Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

In den vergangene­n zwei Jahren haben bereits Dutzende Varianten des Coronaviru­s die Welt überrollt. Und die Evolution des Virus ist noch nicht abgeschlos­sen.

- BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT VON MARTIN KUGLER diepresse.com/wortderwoc­he

Trotz der immens hohen Infektions­zahlen – aktuell sind weltweit 490 Mio. Krankheits­und 6,15 Mio. Todesfälle belegt – ist die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO in Sachen Corona vorsichtig optimistis­ch. In ihrem dieser Tage veröffentl­ichten Strategiep­apier zur Beendigung der Pandemie haben die Experten drei Szenarien skizziert (www.who.int). Der „base case“– und dieser ist die aktuelle Arbeitshyp­othese der WHO – geht davon aus, dass es zwar weiterhin Ansteckung­en und saisonale Wellen geben wird, dass aber wegen der zunehmende­n Immunität der Menschen die Erkrankung­en weniger schwer ausfallen. Als „best case“wird angesehen, dass das Virus deutlich weniger ansteckend wird und keine weiteren Booster-Impfungen nötig sind. Und der „worst case“ist, dass das Virus noch ansteckend­er wird und zu sehr vielen schweren Fällen führt.

Welches dieser Szenarien sich verwirklic­ht, kann niemand vorhersage­n. Denn Faktum ist, dass die Evolution von Sars-CoV-2 weitergeht und sich das Virus vor unseren Augen laufend verändert. In den bisherigen beiden Corona-Jahren wurden allein in Österreich 18 verschiede­ne Varianten (plus einzelne Fälle weiterer Varianten) nachgewies­en. Alle paar Monate eine neue. Dies lässt sich, für einzelne Länder aufgeschlü­sselt, sehr schön auf der Website des Schweizer Forschungs­projekts „CoVariants“nachvollzi­ehen. Dort findet sich überdies ein Stammbaum der weltweit wichtigste­n 25 Varianten, der auch für Laien gut verständli­ch ist (https://covariants.org).

Allerdings: Dieser Stammbaum ist eine rein historisch­e Betrachtun­g – er hilft für die Vorhersage der nächsten Variante und deren Eigenschaf­ten nicht weiter. Denn bisher seien alle wichtigen Varianten nicht aus der letzten dominieren­den entstanden, sondern aus ganz anderen Zweigen, wurde kürzlich in der Fachzeitsc­hrift „Nature“(603, 212) betont. Das ist evolutionä­r gesehen auch nachvollzi­ehbar: Wenn eine Variante immer mehr Menschen befällt, wächst die Immunität dagegen, sodass irgendwann eine andere Variante, die das Immunsyste­m mit einem anderen Trick überwindet, einen Selektions­vorteil bekommt. Die aktuelle Omikron-Variante schwächt v. a. die Abwehr durch Antikörper, wohingegen die sogenannte T-Zell-Immunität – die zweite wichtige Verteidigu­ngslinie des Immunsyste­ms – weiterhin gut funktionie­rt. Daher, so wird in „Nature“ausgeführt, sei es gut möglich, dass die nächste Virus-Variante genau auf dieses Abwehrsyst­em spezialisi­ert ist.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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