Katar 2022: Fußball um jeden Preis
Im Rekordtempo hat Katar um 200 Milliarden Dollar die Infrastruktur für die Fußball-WM aus dem Wüstensand gestampft. Doch wenn es um Menschenrechte im Emirat geht, fordern die Veranstalter Geduld. Der WM-Gastgeber zwischen Reform und Realität.
Sechs Minuten waren es, die den inszenierten Familienfrieden empfindlich störten. So lang gehörte das Podium bei der Versammlung der 211 Fifa-Mitgliedsverbände – der selbst ernannten „Fußballfamilie“– der Norwegerin Lise Klaveness. Die 40-Jährige ist Ex-Spielerin, frisch gewählte norwegische Verbandschefin und homosexuell. „2010 ist die WM von der Fifa unter inakzeptablen Umständen und mit inakzeptablen Konsequenzen vergeben worden“, so Klaveness in Katar, wo nun ab 21. November ebendiese Fußball-WM 2022 steigen wird.
Seit der fragwürdigen WM-Vergabe 2010 steht Katar wegen der Menschenrechtslage in der Kritik. Im Mittelpunkt stand das Kafala-System, das den Millionen Gastarbeitern aus dem Ausland praktisch alle Rechte nimmt. Der „Guardian“berichtet, dass seit der Vergabe mehr als 6500 Arbeiter aus Südostasien in Katar gestorben sind. Und Amnesty International urteilt im Jahresbericht 2021, dass Arbeitsmigranten weiter von Ausbeutung betroffen seien.
Frauen sowie LGBTIQ+-Personen sind gesetzlich und im Alltag diskriminiert, Homosexualität ist verboten, es drohen fünf Jahre Haft. Amnesty zufolge schränkt Katar das Recht auf Meinungsfreiheit just vor der WM noch einmal stärker ein. Klaveness fasste es so zusammen: „Es kann keinen Platz geben für Arbeitgeber, die nicht die Sicherheit von WM-Arbeitern sicherstellen. Keinen Platz für Gastgeber, die nicht gesetzlich die Sicherheit und den Respekt von LGBTIQ+-Personen garantieren, die zu diesem ,Theater of Dreams‘ kommen.“
Mustafa Qadri ist Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Equidem, er hat 2016 die erste unabhängige Untersuchung zur Situation der WMArbeiter in Katar durchgeführt. Erst vor wenigen Wochen war er zuletzt vor Ort. Für die Fairplay-Initiative „Unser Spiel für Menschenrechte“berichtete er Wien, dass immer noch Gastarbeiter (Monatsverdienst: 200 bis 300 Euro) unter rätselhaften Umständen sterben, dass Schuldknechtschaft, Verzögerungen bei der Gehaltszahlung und Drohungen nach wie vor anzutreffen sind. „Katar, die Fifa und ihre Geschäftspartner werden mit diesem Turnier Millionen verdienen. Das Mindeste, was diese Akteure tun könnten, ist sicherzustellen, dass die Arbeiter ihren Lohn erhalten und mit Würde behandelt werden“, sagt Qadri.
Wie aber argumentiert der WMGastgeber? Die Regierung des Emirats verweist auf zahlreiche Reformen, insbesondere für Arbeitnehmerrechte. Tatsächlich ist das Kafala-System offiziell abgeschafft. Verstöße gegen die neuen Gesetze würden rigoros verfolgt, heißt es aus Katar. Die Sterberate bei den Arbeitern, die die 200 Milliarden teure WM-Infrastruktur aus dem Wüstensand stampfen, liege angesichts der Zahl an Arbeitern im Land (1,4 Millionen) im zu erwartenden Bereich. Fehler werden eingestanden, Geduld wird eingemahnt.
Rampenlicht. Fifa-Präsident Gianni Infantino unterhält einen Wohnsitz in Katar. „Natürlich ist es kein Paradies. Natürlich ist es nicht perfekt. Natürlich gibt es noch viel zu tun, aber da müssen wir dranbleiben. Wir müssen Veränderungen fördern“, erklärte er. Der Schweizer, der Arabisch spricht, argumentiert so: Ohne WM würde nie mit dieser Sorgfalt auf die Menschenrechtslage in Katar geschaut werden.
Ein altes Argument, das aus Sicht von Funktionären schon so manchen Schulterschluss mit Autokraten gerechtfertigt hat. Aber mit Sicherheit keine Rolle spielte, als die WM im Jahr 2010 nach Katar vergeben wurde, – einer Untersuchung des US-Justizministeriums zufolge unter Einsatz von Bestechungsgeldern. Dennoch: Der Druck, den Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen
seither auf Katar ausgeübt haben, hatte Folgen. Zumindest offiziell gibt es einen Mindestlohn und kein Kafala-System mehr, das in anderen Golfstaaten noch gang und gäbe ist. Experte Qadri sagt: „Ich sehe positive Veränderung, die ich in anderen Ländern der Region nicht sehe.“Auch Barbara Helige, Präsidentin der Österreichischen Liga für Menschenrechte, sieht einen Effekt der medialen Aufmerksamkeit. „Anderen missbrauchten Arbeitskräften auf der Welt gelingt das nicht“, meint die Juristin. „Wenn die Öffentlichkeit hinschaut, bewirkt das schon etwas.“
Was aber passiert, wenn im Dezember der neue Weltmeister gekürt ist und das weltweite Interesse wieder weiterzieht? Zur Erinnerung: Auch China hat sich bei den Olympischen Spielen 2008 noch weltoffen präsentiert, inzwischen ist das Reich der Mitte restriktiver denn je. Russland, das bei den Winterspielen 2014 in Sotschi und bei der Fußball-WM 2018 vorgegeben hat, ein „neues Russland“zu sein, führt nur wenige Jahre später einen brutalen Angriffskrieg mitten in Europa.
Doch Russland hat auch gezeigt, wozu eine vereinte Sportwelt imstande ist, wenn sie die alte Mär vom unpolitischen Sport hinter sich lässt. „Wir müssen auf diesem Moment aufbauen“, sagt Qadri mit Blick auf Katar. Auch
Während Milliarden in die Kassen fließen, verdienen Arbeiter 200 Euro im Monat. » Die WM hat ein Problem, wie soll man ein Fußballfest feiern auf einem Friedhof? « KURT WACHTER
Gründer FairplayInitiative