Die Festung Frankreich und ihre Grenzen
Natur und Politik schufen den geschlossenen nationalen Raum des französischen Territoriums. Ein Auftakt zu unserem neuen »Geschichte«-Magazin Frankreich, das am 6. April 2022 anlässlich der französischen Präsidentschaftswahlen erscheint.
Eigentlich sieht das Land aus wie ein unregelmäßiges Vieleck, trotzdem hat es sich bei den Franzosen eingebürgert, ihr Land als „Hexagone“, als Sechseck, zu sehen. Das ist wohl weit weniger offensichtlich als der berühmte italienische „Stiefel“, zudem sind Korsika und die überseeischen Departements bei diesem Schema ausgeschlossen. Trotzdem wurde das Sechseck ausgewählt, Jules Verne hat es 1868 in einem illustrierten Geografiebuch erstmals genannt. Erst Anfang der 1960er-Jahre wurde der Begriff auch in der Wissenschaft zur Beschreibung Frankreichs verwendet. Es war die Zeit, als Algerien unabhängig wurde und die territorialen Grenzen des Staates mehr als zuvor rein europäisch wurden.
Das Land hat seine derzeitige geografische Ausdehnung im Wesentlichen schon früh in seiner Geschichte erreicht, im 17. Jahrhundert. 1679 umfasste es bereits 520.000 km2, nur knapp 32.000 km2 weniger als heute. Diese Kontinuität ist in Europa beispiellos und erklärt die starke mentale Identifikation der Franzosen mit Frankreich als einem geschlossenen nationalen Raum.
Gallien. Die Verknüpfung von Geografie und Geschichte lässt sich in Frankreich weit zurückverfolgen. Während die Deutschen die Nation eher als eine kulturelle und sprachliche Einheit definierten, wählten die Franzosen eine geografische Definition der Nation. Schon früh, im 16. Jahrhundert, findet sich die Vorstellung eines von unabänderlichen, natürlichen Grenzen umschriebenen Frankreich (mit Bezug auf die Grenzen des antiken Gallien). Gemeint waren Meere, Gebirge und Flüsse. Man definierte das bekannte Sechseck. Es wurde gebildet aus der Küstenlinie von Ärmelkanal und Atlantik, den Pyrenäen, der Mittelmeerküste und eine durch die Pässe der Westalpen markierte Linie bis zum Rhein und seiner Mündung. Das galt als Existenzgrundlage des französischen Volks.
Frankreich
20 historische Essays erklären im 18. Band unserer „Geschichte“Magazine markante Abschnitte aus der Geschichte von Gallien bis Macron.
Aus dem Inhalt: Asterix und Rom – Staatsbildung – Gotik – Troubadours – Hundertjähriger Krieg – Jeanne d’Arc – Katharina von Medici und Hugenotten – Am Hof des Sonnenkönigs – Aufklärung – Revolution 1789 – Napoleon – Kultur der Bourgeoisie – Zeit der Weltkriege – de Gaulle – Fünfte Republik
104 Seiten, Texte von Günther Haller, Bildauswahl Tina Stani.
Preis 10 €, für Abonnenten 8 €. Zu erwerben unter diepresse.com/ geschichte und ab 6.4. im Handel.
Es war ein Weg, um ein Königreich, das von Feinden umzingelt war, besser verteidigen zu können. Wie in einem Schraubstock sah sich Frankreich gefangen, angesichts der Überzahl der potenziellen Feinde, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, England, Spanien, Italien.
Die Atlantikküste war eine Herausforderung, sie musste gegen die Engländer gesichert werden, die jahrhundertelang die Krone Frankreichs anstrebten. Steinerne Zeugen aus dem 20. Jahrhundert beherrschen bis heute Teile der durch ihren spröden Charme berühmten Strände. Mit der Niederlage Frankreichs war im Juni 1940 der deutsche Machtbereich an den Atlantik gerückt. Die Millionen Kubikmeter Beton, die das NS-Regime hier für den Bau eines „Atlantikwalls“eingesetzt hat, sind das unübersehbare Erbe des Versuchs, diesem Raum die deutsche Herrschaft aufzuzwingen. Die militärischen Festungsbauten erwiesen sich bei der Invasion in der Normandie als wirkungslos, sie überdauerten in ihrer klobigen Präsenz freilich die Zeit der NS-Herrschaft.
Eine zweite Herausforderung bestand in den Pyrenäen. Über fast 450 Kilometer zieht sich der Höhenzug zwischen Frankreich und Spanien vom Atlantik zum Mittelmeer. Leicht zu überqueren ist er nur an der relativ „flachen“Atlantikküste. Zwar bildete er eine natürliche Grenze, wie man sie sich nur wünschen konnte, dennoch boten die Berge nicht immer jene Sicherheit gegen Angriffe der jeweiligen Feinde, die sich die Herrscher und ihre Untertanen wünschten. Von großen Heeren konnte das Gebirge freilich nicht leicht überschritten werden. Wuchtige Festungsanlagen sollten die Stabilität der Grenze sichern. Erst am 7. November 1659 kam es zum sogenannten Pyrenäenfrieden, der den Grenzverlauf festlegte. Der Vertrag markierte den Niedergang Spaniens im europäischen Machtgefüge und den Aufstieg Frankreichs zur Hegemonialmacht Europas.
Am südlichen Alpenhang gab es seit dem Mittelalter als Teil des Königreichs Sardinien die Grafschaft, später das Herzogtum Savoyen, das sich die Herrschaft über die Alpenpässe sicherte und über das Territorium Savoyens und des Piemonts herrschte. 500 Jahre lang herrschte die Dynastie, die von 1861 bis 1946 die Könige Italiens stellte, ebenfalls über die Stadt Nizza – in dem Gebiet wurde größtenteils Italienisch gesprochen. Die Grenze der italienischen Region lag westlich von Nizza.
Am 14. Juni 1860 wurden die Urkunden des Vertrags von Turin zwischen dem Königreich Sardinien und Frankreich ausgetauscht, womit Savoyen, die Grafschaft Nizza und das Montblanc-Massiv endgültig französisch wurden. Der Neffe Napoleon Bonapartes, Napoleon III., kam mit dieser Abrundung des Alpenkranzes seiner Vi
Die mentale Identifikation mit dem Land ist Folge der langen historischen Kontinuität.
sion eines Reiches mit natürlichen Grenzen einen Schritt näher. Zugrunde lag dem Deal ein Entgegenkommen von Camillo Benso di Cavour, dem Premierminister des Königreichs Sardinien-Piemont. Er brauchte die Unterstützung des französischen Kaisers, um sein großes Projekt der italienischen Einigung gegenüber Österreich durchzusetzen, und trat das Gebiet daher an die Franzosen ab.
Einfallstor. Ein Einfallstor zum französischen Territorium, das gefährlich werden konnte, stand im 17. Jahrhundert gefährlich weit offen: Die Grenze der Vereinigten Provinzen der Niederlande im Nordosten. Die gesamte Regierungszeit von Ludwig XIV. wurde hart an der Sicherung dieser Grenze gearbeitet. Man wusste, dass es hier eine echte Schwachstelle für die „Festung Frankreich“bei der Gefahr von Invasionen gab. Wie sehr die Ängste vor einem offenen Tor für deutsche Einmärsche berechtigt waren, zeigte der Krieg von 1870, aber vor allem das 20. Jahrhundert: 1914 stießen die Armeen des Deutschen Kaiserreichs durch das neutrale Belgien nach Frankreich vor. Und am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die neutralen Benelux-Staaten und marschierte in Frankreich ein. Nach vier Wochen war der Triumph perfekt.
Im Zuge der Herausbildung der französischen und der deutschen Nation war es immer wieder zu ausgeprägten Konflikten um die Festlegung der Grenze gekommen. Grenzregionen wie das Saarland, das Elsass und Lothringen wurden im nationalen und nationalistischen Diskurs symbolisch aufgeladen. Veränderungen im Grenzverlauf konnten zu Spannungen und in der ansässigen Bevölkerung nicht selten zur Ablehnung des Nachbarn führen. Kein anderer Fluss hat in der Folge eine solche intensive nationale Inanspruchnahme von beiden Seiten erfahren wie der Rhein. Der Mythos vom „deutschen Strom“kollidierte mit der Vorstellung der „natürlichen Grenze Frankreichs“entlang dieses Flussverlaufs. Kein Fluss war so „politisch“wie der „alte Vater Rhein, der zum Gefangenen und sogar zur Geisel der Menschen wurde“(Lucien Febvre).
„Der Rhein wird die Grenze Frankreichs bleiben. Die Natur selbst hat ihn dazu gemacht“, schrieb Georg Forster über eine mögliche Annexion der linksrheinischen deutschen Territorien. Das napoleonische Frankreich, das den zivilisatorischen Führungsanspruch über Europa erhob, sollte es bei dieser natürlichen Grenze jedoch nicht belassen, machte den Rhein französisch und griff darüber hinaus. Man führte so das Argument der natürlichen Grenze ad absurdum.
Napoleon wurde besiegt, der Wiener Kongress von 1815 brachte Frankreich wieder in seine Grenzen von 1789 zurück. Der Rhein wurde zum Mythos für den deutschen Patriotismus, der ihn gewissermaßen heiligsprach und zu einem Symbol der Deutschen in Abgrenzung zu den Franzosen stilisierte. Heute bildet der Rhein über 180 Kilometer die Grenze zwischen den beiden Staaten. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später Europäische Union hat, obwohl sie nicht zu diesem Zweck errichtet wurde, den jahrhundertealten Grenzkonflikt beendet.
Die Grenze im Nordosten des Landes war wiederholt ein gefährliches Einfallstor.