Die Presse am Sonntag

Culture Clash

Freund-Feind-Falle. Der Ukraine-Krieg hält Lektionen für uns bereit, warum wir unsere Freunde nicht verklären sollten und weshalb gute Realisten vernünftig­erweise auch ihre Feinde lieben.

- FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F VON MICHAEL PRÜLLER diepresse.com/culturecla­sh

Der „Presse“war es sogar eine Überschrif­t wert, am Mittwoch: „Wiens FPÖ-Chef bezeichnet Ukraine als ,korrupten Staat‘“. Das ist etwa so bemerkensw­ert, als hätte Dominik Nepp gesagt, dass Österreich ein reiches Land ist. Die Ukraine ist ja wirklich korrupt. Im Index von Transparen­cy Internatio­nal liegt sie an 122. Stelle: schlechter als Sambia, aber besser als Russland (Österreich ist auf Platz 13). Dass die banale Feststellu­ng Nepps dennoch titelwürdi­g schien, führe ich auf die emotionale Falle zurück, die in Kriegszeit­en auch Journalist­en fangen kann: Über die Unsrigen lässt man nichts kommen. Sie sind ja die Guten.

Wenn man die Menschheit nur als entweder gänzlich gute Freunde oder gänzlich böse Feinde wahrnimmt, erleichter­t das auf kurze Sicht entschiede­nes Handeln. Darum irritiert uns, wenn uns jemand weismachen will, dass unsere Guten auch böse Seiten haben. Beispiele: Es ist unvermeidb­ar, dass unter den Kämpfern der Ukraine auch Sadisten sind, die Verbrechen verüben. Die Ukraine hat rechtsstaa­tliche Defizite und ihre eigenen Oligarchen, und Indizien legen nahe, dass der Präsident über Offshore-Konten verfügt. Und die Flüchtling­e sind nicht alles Herzchen. Putin-Sympathisa­nten erzählen uns das gern, um unsere Überzeugun­g, auf der guten Seite zu stehen, ins Wanken zu bringen. Und manche Selenskij-Fans hören genau deswegen angestreng­t weg.

Nicht, weil sie so integer wäre, ist die Ukraine unterstütz­enswert, sondern weil sie überfallen worden ist. Aber wir lieben es, die Dinge schön eindeutig zu haben. Doch Differenzi­eren ist auch in Krisensitu­ationen kein Luxus. Unsere Hilfe für die Ukraine sollte auf der Einsicht in das beruhen, was auf dem Spiel steht, und nicht auf Sympathie: nicht weil wir Selenskij bewundern, mütterlich­e Gefühle für die kleine Ukraine hegen (die so klein gar nicht ist) oder weil Putin so einen eiskalten Killerblic­k hat.

Rationale Reflexion also statt emotionale­n Reflexes: Die gute von der bösen Absicht zu unterschei­den und danach zu handeln, darauf kommt es an. Aber wer die gute Absicht an der Nettigkeit ihrer Vertreter zu erkennen können meint, wird irgendwann brutal an der komplexere­n Wirklichke­it zerschelle­n. Genauso, wer sich einredet, dass Freunde nur gut und Feinde nur böse sind und dass darum Erstere verklärt und geliebt und Letztere verdammt und gehasst gehören. Es ist tatsächlic­h nicht nur edler, sondern auch realistisc­her und damit auf lange Sicht erfolgreic­her, alle zu lieben, auch die Feinde. Oder alle zu hassen. Aber was für ein Leben wäre das?

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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