Ansturm auf Psychologen in Russland
Der Konflikt in der Ukraine und Bilder von Massakern wirkt auch hier sehr belastend.
Mit den Bildern vom Massaker im Kiewer Vorort Butscha durch mutmaßlich russische und tschetschenische Truppen häuften sich in der russischen Telegram-Gruppe „Dum spiro spero“(„Während ich atme, hoffe ich“) wieder die Kommentare. „In den vergangenen Wochen habe ich es irgendwie geschafft, die Situation anzunehmen. Ich will nicht sagen, ich hätte mich daran gewöhnt, aber Kinder, Job, Haushalt müssen ja bewältigt werden. Jetzt fehlt mir wieder die Luft“, schreibt eine Tatjana. Oder: „Butscha. Mir fehlen die Worte. Alles ist eingefroren in mir. Ich kann mit niemandem darüber sprechen. Ich verstehe die Welt nicht mehr“, meint eine Nina.
Qigong gegen die Last auf der Seele. Nach Beginn der russischen „Spezialoperation“in der Ukraine hatten Psychologen den Kanal ins Leben gerufen. Sie suchten Wege, schnelle Hilfe zu leisten, weil viele in dem Moment – auch sie selbst, die in Not anderen zur Seite stehen – sich hilflos fühlten, beschämt, schuldig. Sie boten Qigong an, Gruppensitzungen per Zoom, mehrmals am Tag. Sie gaben Frauen und Männern in ihrer Verlorenheit Mittel an die Hand, ihren Alltag zu meistern. Irgendwie. Zuletzt wurden die Sitzungen aber wieder weniger. Bis die Bilder aus Butscha in der Welt waren.
„In einem solchen Moment spüren wieder viele, dass das Leben vor den eigenen Augen auseinanderbrechen kann. Immer und immer wieder. Es ist eine lang anhaltende Krise“, sagt Vera Jakupowa. Auch bei der Moskauer Psychologin häuften sich nach jenem 24. Februar, als russische Truppen in die Ukraine einfielen, die Anrufe. „Was tun?“, „Wie weiterleben?“, „Wie sich überhaupt bewegen?“, fragten Menschen. Mit ihrer ruhigen und hellen Stimme sagte die 33-Jährige: „Atmen.“
Vor wenigen Jahren gründete Jakupowa Good Point, eine Anlaufstelle für russische Familien, die sich Gedanken darüber machten, was für Eltern sie für ihr Kind sein wollen. Weg von Gewalt, weg von Drohungen, weg von Überzeugungen, die sie von ihren sowjetisch geprägten Eltern erfahren hatten. Sie stellten vieles infrage und suchten Neues für sich und ihr Kind. Sie konnten es sich leisten.
Gerade in Putins Russland brachten es viele Menschen zu einem gewissen Lebensstandard, bei dem es nicht mehr ums reine Überleben ging. Genauso, wie sie Orthopäden oder Zahnärzte aufsuchen, machten sie nun Termine bei Psychologen oder Psychotherapeuten aus. Der Markt dafür war über Jahre stetig gewachsen. In den vergangenen Wochen, so rechnet es die Karriereplattform Head Hunter vor, stieg die Nachfrage nach Psychologen um 111 Prozent an. Ein regelrechter Ansturm auf die Anlaufstellen.
Der alte Missbrauch der Psychiatrie. „Die Nachfrage für die Krisenhilfe ist in diesen Tagen enorm. Die Menschen befinden sich im Schockzustand, geraten in Panik, denken an Umzug, fühlen sich bedroht. Psychologische Unterstützungsgruppen, sonst in Russland nicht sonderlich beliebt, sind plötzlich gefragt“, erzählt Vera Jakupowa. Auch
Psychologin in Moskau
Good Point bietet nun kostenlose Beratung an, macht Eltern-Kind-Kurse und eine Extragruppe für Schwangere. Alles online. Mit Russischsprachigen in der ganzen Welt. „Für uns als Psychologen ist die Situation völlig neu. Wir sind plötzlich auch Teil dessen, was hier gerade passiert. Alles, was unsere Klienten uns erzählen, erleben wir in der einen oder anderen Form ähnlich“, sagt sie.
Zu Sowjetzeiten war der politische Missbrauch der Psychiatrie eine wichtige Methode der Repression. Wegen „Befunden“wie „Wahnvorstellungen von Reformismus“wurde so mancher Andersdenkende für Jahre in Hochsicherheitsabteilungen psychiatrischer Krankenhäuser gefangen gehalten. Die Diagnosen stellten die Ärzte zuweilen auch in Abwesenheit ihrer „Patienten“. Lang hatten es Psychologen und Psychiater aus diesen historischen Gründen daher schwer im Land.
» Die Menschen geraten in Panik, denken an Umzug, fühlen sich bedroht. Psychologische Hilfe, sonst in Russland nicht sonderlich beliebt, ist plötzlich gefragt. « VERA JAKUPOWA
Vor allem großstädtisches Phänomen. In den vergangenen Jahren aber entwickelte sich die Psychologie vor allem im großstädtischen Milieu fast schon zu einem Muss, als persönliche Gesundheitspflege, die einfach dazugehört. Es entstanden Hotlines für Männer, Kurse für Eltern, Austauschgruppen für Mütter. In Zeiten der „Spezialoperation“stellen viele davon auf Krisenhilfe um. „Wir hören zu, weil viele sich selbst in ihren Familien nicht trauen, von ihren Sorgen zu berichten, um die anderen nicht zusätzlich zu belasten“, sagt Jakupowa. „Wir helfen, Ängste zu strukturieren“. Und zu atmen. Gemeinsam mit den Klienten.