Der Schock der Bilder: Wir und der Krieg
Manchmal erlauben uns Bilder vom Krieg eine Identifikation mit den Opfern. Sie vermitteln uns das Gefühl zu wissen, wer auf der guten und wer auf der bösen Seite steht – und dass keiner mehr ab diesem Zeitpunkt zur Tagesordnung übergehen kann.
Es gibt Ereignisse, die zu historischen Wendepunkten werden, weil sie Not und Elend in einem Ausmaß sichtbar machen, dass niemand gleichgültig zur Tagesordnung übergehen kann. Bei der Flüchtlingskrise von 2015 war es das Bild eines syrischen Kleinkinds, das tot im Sand an der Küste von Bodrum lag. Es ging vielen nicht mehr aus dem Kopf. Nicht mehr von Scheinoder Wirtschaftsflüchtlingen war dann die Rede, sondern von im wahrsten Sinne gestrandeten Menschen an der Grenze zu Europa. Kurzfristig stiegen die Hilfsbereitschaft und der Druck, mit den Flüchtlingen menschenwürdig umzugehen. Es mag ein menschlicher Zug sein, dass die Betroffenheit durch Bilder mit der Zeit nachlässt, doch sie können auch langfristig empathische Reaktionen hervorrufen, die zu Solidarität führen.
Das gilt auch für die Bilder aus dem Krieg, wie wir sie in dieser Woche aus dem Kiewer Vorort Butscha sehen mussten: Massengräber und tote Zivilisten auf der Straße. Genau genommen war es nur ein kleiner Ausschnitt aus einem schrecklichen Geschehen, doch es führte zu Reaktionen in der Verurteilung des russischen Feldzugs, die bis dahin nicht zu hören waren: Von Genozid und Vernichtungskrieg war erstmals die Rede und härtere Reaktionen wurden gefordert.
In historischen Zeiten mag die Öffentlichkeit ihren Blick auf die Kämpfe, die Schlachten, Siege und Niederlagen gerichtet haben. Uns schockieren die unschuldigen Opfer des Krieges, die in Form von Hunger, Mord, Vergewaltigung, Versklavung oder Deportation ihren Preis für imperiale Aggression zu zahlen haben. Die Gewalt von Bodentruppen, wie sie abseits der Hauptkriegsschauplätze und jenseits des großen Kampfgeschehens verübt werden, die endemische Verachtung des Kriegsrechts und jedes soldatischen Ethos schockiert uns mehr als die Planungen in den Hauptquartieren und strategischen Schaltstellen.
Die Tötung von Zivilisten ist natürlich keine russische Erfindung. Krieg kommt nie freundlich daher und lässt Zivilisten keine Wahl, ob sie hineingezogen werden wollen oder nicht. Unbeteiligte Menschen absichtlich zum Ziel zu erklären, gehört seit jeher zu den Taktiken der Kriegsführung. Die deutsche Wehrmacht hinterließ bei ihrem Rückzug aus Russland so wie jetzt die Soldaten vor Kiew „verbrannte Erde“, und die USA zerbombten im Vietnam-Krieg Siedlungen mit Zivilisten.
Die unschuldigen Opfer waren in der Geschichte manchmal, um den furchtbaren Begriff der Militärstrategen zu verwenden, „Kollateralschäden“. Aber häufig wurden sie ganz bewusst zum Ziel, um den Feind zu schwächen. Für gewöhnlich starben die Schwachen – Kinder, Alte, Arme – als Erste. Sie mussten furchtbar leiden, wenn sie in der Nähe von Schlachtfeldern oder in einer belagerten Stadt lebten.
Kopfschuss. Die Verurteilung von Kriegsverbrechen kommt dann immer zu spät für die Opfer. Aber sie kommt, besonders dann, wenn es Bilder von Massakern gibt, die sich der Weltöffentlichkeit einprägen und die zu Stimmungsumschwüngen führen. Manchmal waren sie sogar imstande, die politische Entwicklung zu beeinflussen.
Das ist der Fall, wenn ein Bild eine Identifikation der Beobachter mit dem Opfer erlaubt, weil es eine klare Trennung von Gut und Böse suggeriert. Das war am 1. Februar 1968 in den Straßen Saigons der Fall: Der Kriegsfotograf Eddie Adams fotografierte, wie der Chef der südvietnamesischen Polizei einen jungen Vietcong durch einen Kopfschuss exekutierte.
Der General wusste in dem Moment, als er abdrückte, dass Kamerateams ihn im Visier hatten. Zwanzig Millionen Amerikaner sahen zu, als es am Tag danach im Fernsehen gezeigt wurde. Die Fratze des Kriegs gelangte mit obszöner Direktheit in die Wohnzimmer – so wie heute Butscha. Die Empörung, die das Bild auslöste, habe er nie verstanden, sagte der Fotograf: „Während eines Kriegs sterben nun einmal
Menschen.“Vor dem Mord auf der Straße präsentierten die Medien der Öffentlichkeit vor allem Bilder eines sauberen, effizienten Krieges. Nun wurden hautnah Täter-Opfer-Beziehungen gezeigt.
Es wurde demonstriert, dass auch in einem modernen, technologisch hochgerüsteten Krieg archaische Formen von Gewalt zwischen Menschen nicht der Vergangenheit angehören (im Ukraine-Krieg war diese urtümliche Form der Kriegsführung von Anfang an merkbar). Völlig gekippt ist die öffentliche Meinung zum VietnamKrieg durch ein Massaker von US-Soldaten am 16. März 1968, an 504 Frauen, Männern und Kindern – ein ganzes Dorf wurde ausgelöscht. „My Lai“wurde endgültig zum Symbol für die schmutzige Seite des Krieges.
Das verschwiegenste Kriegsverbrechen in Europa seit dem
Zweiten Weltkrieg war das
Massaker von Srebrenica am
11. Juli 1995. Hier waren kei
Verachtung des Kriegsrechts und Fehlen von soldatischem Ethos schockiert.
ne Kameras anwesend, die Empörung war daher zeitverzögert. Bosnisch-serbische Truppen nahmen die ostbosnische Muslim-Enklave ein, obwohl sie den Status einer UNO-Schutzzone hatte, und ermordeten rund 8000 Männer und Knaben. Ihre Leichen wurden nach dem Ende des Krieges in mehreren Massengräbern gefunden. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag stufte das Massaker als Völkermord ein. Es beeinflusste maßgeblich die Politik der internationalen Gemeinschaft während des Bosnien-Krieges.
Israels Ansehen in der Welt wurde durch das Blutbad von Sabra und Schatila schwer beschädigt. Unter dem Kommando des damaligen Verteidigungsministers Ariel Scharon waren israelische Truppen in den Libanon einmarschiert. Vor ihren Augen zogen am 16. September 1982 christliche Freischärler durch die Palästinenserlager südlich von Beirut und ermordeten wahllos tausende palästinensische und schiitische Frauen, Männer und Kinder.
Die israelische Armee, die die Lager umzingelt hatte, sah dem Treiben der mit ihr verbündeten Miliz tatenlos zu. Die Verantwortlichen wurden weder im Libanon noch in Israel vor ein Gericht gestellt.
Am 26. April 1937 bombardierten deutsche Bomber der Legion Condor, die General Franco im Spanischen Bürgerkrieg unterstützte, die Stadt Guernica – eine sinnlose und perfide Gewalttat ohne militärstrategischen Sinn, zu einem Zeitpunkt, da sich viele Zivilisten in der Stadt drängten.
Das Bild „Guernica“, das Pablo Picasso malte, wurde in der Folge als Protestschrei gedeutet und zur weltberühmten Antikriegsikone. Eine Studie von Jörg Martin Merz hat nachgewiesen, dass der Luftangriff und das Bild kausal gar nicht unmittelbar zusammenhängen und der Titel erst später hinzugefügt wurde. Picasso ließ die Mythenbildung zu, vergrößerte sie doch die Aura des Werks als Fanal gegen Faschismus und Krieg.
Auf das Entsetzen über Kriegsverbrechen muss die Ermittlung folgen. Das Instrumentarium für die Sicherung von Beweisen hat sich im Vergleich zu den geschilderten Ereignissen der Vergangenheit deutlich verbessert. Zu den Aussagen von Zeugen und der Untersuchung der Opfer, die auch früher möglich waren, kommen Satellitenaufnahmen und Daten aus sozialen Medien wie Nachrichten der beteiligten Soldaten.
Es steht nicht mehr Wort gegen Wort, sondern es gibt Beweisführungen, um Klarheit über die Täter und die Befehlsketten zu gewinnen. Das wird Kriegsverbrechen wie die in Butscha nicht stoppen. Doch sie unbestraft zu lassen, ist unerträglich.
Auf das Entsetzen über die Kriegsverbrechen muss die Ermittlung der Täter folgen.