Bei den geflohenen Kindern von Mariupol
Sie kritzeln Telefonnummern auf die Haut von Babys oder stecken Zettel mit Kontaktdaten ins Kindergewand. Im Chaos des Krieges fürchten Eltern, ihre Kinder zu verlieren. Die Psyche der kleinen Flüchtlinge wird Jahre leiden.
Vira Vakovy“steht in großen blauen Buchstaben auf der zarten Haut eines blondhaarigen Mädchens, das noch Windeln trägt. Kleiner sind darunter Geburtsdatum, Telefonnummer und Adresse zu erkennen.
„Meine Hände haben so stark gezittert, wie noch nie in meinem Leben“, erzählt Alexandra Vakovy. „Ich habe dabei geweint.“Sie ist Viras Mutter und hat das Bild des Babys auf Instagram gepostet. Es ging um die Welt – steht es doch ikonografisch für die Angst aller ukrainischen Mütter um ihre Liebsten im Krieg.
„Meine Tochter ist der größte Schatz, den ich habe“, sagt Vakovy. Wenn der Mutter etwas zugestoßen wäre, hätte wohl niemand gewusst, wie Vira heißt, wann sie geboren ist und wer zu kontaktieren ist. Also schrieb sie es dem Baby auf den Rücken.
Das war am 24. Februar, dem Tag, an dem die russische Invasion der Ukraine begann. „Wir sind aufgewacht und haben die Explosionen gehört“, erinnert sich Vakovy. In ihrem Wohnhaus gab es keinen Luftschutzraum, die Familie packte ihre Sachen.
Heute sind sie in Frankreich und vom Krieg in der Heimat weit weg. Bei Kriegsbeginn gehörte die Familie zu den ersten Tausenden von Flüchtlingen in der Ukraine. Nach fast zwei Monaten Krieg sind es mittlerweile über zehn Millionen Menschen, die ihr Heim verlassen mussten. Fast die Hälfte davon rettete sich ins Ausland. 6,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge, die in der Ukraine bei Angehörigen und Freunden Schutz gefunden haben. Darunter befinden sich mindestens 2,5 Mio. Kinder – viele noch so klein wie Vira, die Tochter von Alexandra Vakovy.
Aus der Hölle. „Ich würde nie Namen und Adresse auf den Rücken meiner Kinder schreiben, wie es diese Frau gemacht hat“, sagt Galina entsetzt. Die eher klein gewachsene Frau mit halblangen schwarzen Haaren ist überzeugt, dass nichts und niemand sie von ihren Kindern trennen könnte. „Ich nehme meine Kinder in den Arm und beschütze sie, was immer auch kommen mag“, sagt die 42-jährige Frau. Sie stammt aus Mariupol und ist durch die Hölle gegangen, wie sie sagt. Mariupol ist eine von der russischen Armee eingekesselte Stadt an der Azow-See und Schauplatz der heftigsten Kämpfe in der Ukraine. Vor über zwei Wochen gelang Galina und ihrer Familie mit viel Glück die Flucht aus der Stadt.
Nun arbeitet sie als Freiwillige im Palast der Kultur der Stadt Saporitscha, den man zum Flüchtlingszentrum umfunktioniert hat. Galina und ihr 18-jähriger Sohn helfen im großen weißen Zelt vor dem alten Gebäude bei Registrierung, Beratung und Verpflegung ankommender Flüchtlinge. Die Stadt Saporitscha liegt in der Zentralukraine und ist hauptsächlich die Anlaufstelle von Flüchtlingen aus Mariupol und anderen Städten in der Donbass-Region, auf die sich die Offensive des Putin-Regimes konzentriert. Rund 60 Menschen, müde und ausgemergelt, sitzen an lange Tischen, schlürfen Suppe, Kaffee und Tee. Besonders die Kinder unter ihnen freuen sich über Bonbons und Kaugummis. „Ich kann mir nicht einmal im Traum eine Situation vorstellen, in der ich ohne meine Kinder sein sollte“, betont Galina im warmen Zelt noch einmal. „Einfach unmöglich“, setzt sie kopfschüttelnd nach. Sie will es einfach nicht wahrhaben, dass im Krieg ihre Kinder verloren gehen und sie getötet werden könnte.
Bisher konnte Galina ihre insgesamt drei Kinder vor physischem Schaden bewahren. Sie haben Mariupol überlebt, das russische Truppen Tag für Tag mit über 120 Raketen beschießen. Aber gegen die psychischen Folgen hat auch die stärkste Mutter der Welt keine Chance.
Ihre achtjährige Tochter leidet seit der Flucht an Bauchschmerzen. Die Ärzte haben sie mehrfach gründlich untersucht, konnten jedoch keinen Anhaltspunkt einer Krankheit finden. „Das ist oft so, dass Kinder Symptome zeigen, aber ihnen körperlich tatsächlich nichts fehlt“, erklärt Vitaly, der als Psychologe im Flüchtlingszentrum arbeitet. Sein Schreibtisch steht unter vielen anderen in einem der großen und hohen Räume des ehemaligen Palastes der Kultur. Etwa ein Dutzend Ärzte wartet hier auf neue Flüchtlinge, die sie bei ihrer Ankunft untersuchen.
„Die Kinder leiden an Traumata, die der Krieg ausgelöst hat“, erklärt der 36 Jahre alte Psychologe. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Eltern Strategien entwickeln, um ihre Kinder vor verstörenden Eindrücken zu bewahren. „Sie verdunkeln die Fenster ihrer Wohnung, ihrer Autos, bringen die Kinder in möglichst lärmgeschützte Zimmer“, berichtet Vitaly, der mit seinem Vollbart jünger wirkt, als sein tatsächliches Alter. Er erzählt dann schmunzelnd von einem seiner Fälle aus Mariupol. Eltern hätten ihrer Tochter ständig Süßigkeiten gegeben, damit sie sich darauf fokussiere und nicht auf das Kriegsgeschehen. „Na ja“, sagt Vitaly und lächelt wieder.
Nicht dasselbe Kind. Ala und ihr Mann haben den Fernseher laut gestellt, und als die Fenster mit Sandsäcken zugebaut wurden, steckten sie einen Heiligenschein über das Bett ihres zweijährigen Sohns Mukolay. „Aber geholfen hat nichts“, schreibt seine Mutter Ala auf WhatsApp. Sie will niemanden persönlich treffen. Die 35-Jährige stammt ebenfalls aus Mariupol und ist nach Saporitscha geflüchtet. Ihr kleiner Sohn hat ihren Ablenkungsmanövern zum Trotz schnell verstanden, dass Krieg herrscht und er jederzeit den Tod bringen kann. Das Schlüsselerlebnis war ein russischer Raketenangriff auf das öffentliche Hallenbad Neptun in Mariupol. „Ich wartete mit meinem Sohn und anderen Frauen, darunter einige Schwangere, auf Hilfspakete“, schreibt Ala in ihren Nachrichten. „Dann gab es eine riesige Explosion. Die ganze Erde wackelte. Es war schrecklich“. Ala und ihr Sohn überlebten wie durch ein Wunder. Andere Frauen konnte der Rettungsdienst nur noch tot aus den Trümmern bergen.
Danach war ihr Sohn Mukolay nicht mehr dasselbe Kind wie früher. Der Zweijährige verlor beim Lärm von Detonationen oft das Bewusstsein. Aus Angst versteckte er sich im Korridor der Wohnung. Er hatte große Furcht vor dem Keller, in dem die Familie Schutz suchte. „Für Eltern ist es schmerzhaft, das ansehen zu müssen“, schreibt Ala. Sie berichtet dann über Kinder von Freunden, die nächtliche
»Ich würde nie Namen und Adresse auf den Rücken meiner Kinder schreiben.« »Wir haben ihm sogar ein Kreuz mit allen Informationen um den Hals gehängt.«
Wutanfälle bekamen, ihren Appetit verloren und hypernervös wurden, sobald die Alarmsirenen heulten. Ala wollte ihr Kind aus der Stadt bringen und bat Freund und Bekannte. Ala hatte bereits Zettel in alle Taschen des Gewands ihres Kindes gesteckt, auf denen Name, Geburtsdatum und Telefonnummer notiert waren. „Wir haben ihm sogar ein Kreuz mit allen Informationen um den Hals gehängt“, schreibt Ala. Es ist derselbe Impetus, mit dem Vakovy ihrer Tochter Vira auf den Rücken schrieb. Das Kind darf unter keinen Umständen verloren gehen.
Aber alle Bemühungen, ihren kleinen Sohn in Sicherheit zu bringen, blieben umsonst. Niemand wollte Mukolay mitnehmen. Ala und ihre Familie mussten einfach ausharren. Ohne Strom, Gas und Heizung bei minus elf Grad kam dies einer Tortur gleich. Erst am 18. März konnten Ala und ihre Familie dem Kessel entrinnen.
„Wir fuhren mit dem Auto und wurden von russischen Soldaten beschossen“, erinnert sich Ala. „An einem Checkpoint ließen die Russen uns fünf Stunden warten, klauten zuerst die Sim-Karten und dann alles andere, was sie für wertvoll hielten.“Nun ist die Familie in Sicherheit. Aber Mukolay leidet weiter. Er hustet beständig, obwohl eine Untersuchung ergab, dass auch er körperlich völlig gesund sei.
» Man darf sie nicht als gebrochene Individuen abtun. « OLENA ZAPADNIUK
Psychologin