Die Presse am Sonntag

Kreml angerufen«

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Russen jetzt kollektiv schuld sind und gestraft gehören wie die Deutschen 1945. So funktionie­rt das nicht im 21. Jahrhunder­t! Und es demütigt die vielen Millionen, die von Anfang an gegen den Krieg waren. In meinem ersten Jahr als Geschichte­lehrer habe ich viele Fehler gemacht, ich habe einige Schüler gering geschätzt und gekränkt. Dann habe ich verstanden, das ist kontraprod­uktiv und nicht menschlich.

Was haben Sie dann gemacht?

In den restlichen 19 Jahren habe ich selbst mit den Kleinsten und selbst mit den Unverschäm­testen immer mit Wertschätz­ung geredet. Ich wollte verstehen, warum sie so sind, so handeln. Wenn Sie Menschen demütigen, erreichen Sie das Gegenteil, Sie treiben sie enger zu Putin. Sanktionen, ja, aber nicht auf demütigend­e Art. Man muss erklären, wir verbieten das und das, darum und darum. Aber mit Respekt.

Welche Sanktionen finden Sie besonders problemati­sch?

Viele schneiden die Russen von objektiven Informatio­nen ab. Wenn eine Plattform sich aus Russland zurückzieh­t, frage ich: Arbeitet ihr für den Präsidente­n?! Ich möchte hier vielen Redaktione­n danken, die ihre Inhalte für Russen geöffnet haben, sogar gratis, weil die russischen Kreditkart­en blockiert sind.

Seit dem Ende der Sowjetunio­n haben Sie Russlands Politik kritisch begleitet. Wie ist oder war die Agenda von „Echo Moskwy“?

Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Als Gorbatscho­w 1990 das Gesetz für die Pressefrei­heit unterschri­eben hat, haben wir die erste Radiolizen­z bekommen, deshalb nennen wir Gorbatscho­w gern unseren Vater. Trotzdem war die erste Sendung, die wir im August 1990 gemacht haben, gegen Gorbatscho­w, wir haben kritisiert, dass Russland Spezialein­heiten ins Baltikum schickt. Einen Monat später waren wir schon Thema im Sicherheit­srat. Gorbatscho­w hat mir später erzählt, wie er in der Sitzung gefragt hat: „Warum haben wir einen Feindsende­r so nah am Kreml?!“

Na, weil Sie das Gesetz für Pressefrei­heit unterschri­eben haben, Herr Gorbatscho­w! Wir wollten nie ein Medium der Regierung oder Opposition sein. Wir arbeiten im Interesse unserer Hörer, die unterschie­dlichste Ansichten haben. In Frankfurt oder Brüssel wären wir wohl ein ganz normales Radio.

Wer sind Ihre Hörer?

Das gebildete Publikum der großen Städte. Auch Entscheidu­ngsträger, Minister, Abgeordnet­e, Beamte im Kreml und so weiter, die Informatio­n und unterschie­dliche Meinungen suchen. Viele bleiben uns auch jetzt erhalten, aber natürlich ist es schwierige­r geworden. Der vorherige YouTube-Kanal von „Echo Moskwy“hatte eine Million Abonnenten, jetzt haben wir 460.000.

Wenn man weiß, was so alles in den letzten Jahren auf Ihrem Sender zu hören war, kann man sich wundern, dass Sie überhaupt so lang ruhig arbeiten konnten . . .

Wir hatten schon früher viele Probleme. Als Putin kam, hatten wir 20 Lizenzen in russischen Städten, zuletzt drei. Wir haben immer wieder Verweise von der Generalpro­kuratur bekommen, vor allem im Zusammenha­ng mit der Ukraine und der Krim-Annexion. Ich bekam auch eine Strafe, weil „Echo Moskwy“vier Jahre lang eine Sendung in ukrainisch­er Sprache hatte.

Was glauben Sie, wie es mit „Echo Moskwy“weitergehe­n wird – wenn es weitergeht?

Sie fragen mich nach der Zukunft von Echo Moskwy? Sie wird dieselbe sein wie die Zukunft unseres Landes. Am 20. April gehen wir vors Berufungsg­ericht. Natürlich werden wir verlieren, aber mein Anwalt meint, es ist wichtig, dass das Gerichtsve­rfahren für die Nachwelt dokumentie­rt ist. Und wir müssen bei den Menschen bleiben und profession­ell weiter erklären, wie alles funktionie­rt. Man kann „Echo Moskwy“schließen, aber nicht unsere Hörerschaf­t. Als ich dem niederländ­ischen Botschafte­r gesagt habe „Jetzt bin ich arbeitslos, pensionier­t“, hat er mir geantworte­t: „Nein, nein, du bist frei.“So ist es.

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