Ostersonntag in der »Pflasterstein-Hölle«
Paris–Roubaix ist nicht nur ein Rennen, in der Speichenszene zählt es gar zu den fünf Monumenten des Radsports. Über sechs Millionen Pflastersteine warten auf historischen Passagen voll Staub – auf engen Wegen mit breiten Mythen.
Der Mythos des Radklassikers Paris–Roubaix lebt von surrealen Szenen auf Pflastersteinen. Das letzte dieser anachronistischen Spektakel auf Rennrädern, coronabedingt vom traditionellen Termin Mitte April auf den 3. Oktober 2021 verschoben, hat die abenteuerliche Legende beispielhaft aufgefrischt. Es war eine epische Schlammschlacht. Strömender Dauerregen. Rutschige Pave´s-Passagen. Seengroße Pfützen. Massenhaft Stürze. Verdreckte Fahrer. Ein mit verkrustetem Matsch im Gesicht kaum erkennbarer Sieger: Sonny Colbrelli (Italien). 2020 war das Rennen wegen Corona ganz abgesagt worden.
Am heutigen Ostersonntag (live ab 10.30 Uhr, Eurosport) ist es wieder so weit: „Un dimanche d’enfer“, schreibt „L’Equipe“, ein Sonntag in der Hölle.
Wahnsinn des Radsports. Der Begriff „Hölle des Nordens“wurde für dieses Event nicht wegen der Quälerei auf dem Velo erfunden, sondern hat als schauriges Synonym seinen grausigen Ursprung in den entsetzlichen Schlachten des Ersten Weltkrieges im nordfranzösischen Kohlerevier. Zum 100. Rennen 2002 erinnerte das symbolische Jubiläumsfoto, bewusst als Schreckensbild gewählt, eher an die Grabenkämpfe 1914/1918 denn an die Rennen seit 1896. Das Titelbild auf den offiziellen Broschüren zeigte den völlig mit Dreck verschmierten Jens Voigt. Mit seinen leeren Augen, dem ausgemergelten Gesicht unter dem Stapel von Sturzhelm, Schutzbrille und Schirmmütze hinterließ der heute 50 Jahre alte Berliner tatsächlich einen bleibenden Eindruck. Wie auch zuletzt der völlig erschöpft am Boden liegende Sonny Colbrelli.
Wie kaum ein anderer personifiziert der dreimalige Sieger Johan Museeuw (1996, 2000, 2002) diese Dramen und Leiden auf zwei Rädern. Unvergessen bleibt aber auch, als ein Landregen 1998 einen verheerenden Massensturz in der berühmt-berüchtigten Schneise des „Forest d’Arenberg“verursachte. Museeuws linke Kniescheibe wurde zerschmettert. Durch eine Entzündung drohte dann gar eine Amputation seines
Textilindustrielle aus Roubaix erfanden das Rennen, um in Paris bekannter zu werden.
linken Beins. Zwei Jahre später feierte der Flame auf dem Velodrome von Roubaix sein Comeback mit einer einmaligen Siegesgeste. Nach einem Solo über 40 Kilometer riss Museeuw vor dem Zielstrich das linke Bein hoch und deutete auf sein Knie.
Der „Wahnsinn des Radsports“, wie der legendäre Chefredakteur von „L’Equipe“, Jacques Goddet, den Ausritt auf den Pave´s einmal nannte, hat seinen Anfang im vorletzten Jahrhundert, als die schmalen Feld- und Waldwege mit bretonischen Granitsteinen für die Kohlekarren gepflastert wurden. Das erste Rennen hatten zwei Textilindustrielle aus Roubaix erfunden, um in Paris bekannt zu werden.