Die Presse am Sonntag

Die Welt von gestern

Judith W. Taschler hat mit »Über Carl reden wir morgen« einen großartige­n Familienro­man geschriebe­n, in dem vor allem die männlichen Figuren beeindruck­en.

- VON DORIS KRAUS

Auch wenn man die Formulieru­ng nicht mehr hören kann, bei der Lektüre von Judith W. Taschlers gelungenem Familienro­man drängt sie sich immer wieder auf: „Über Carl reden wir morgen“ist großes Kino. Angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Familie, zeichnet Taschler über drei Generation­en das Schicksal der Bruggers aus dem Mühlvierte­l nach – mit allem, was die Zeit zwischen 1828 und 1922 zu bieten hat: soziale Gegensätze, große Leidenscha­ften, erbarmungs­lose Familienfe­hden, ein bitterer Krieg, Stadt, Land, Aufbruch und Ausbruch.

Der Familienro­man zählt zu den beliebtest­en belletrist­ischen Genres, und in dem Maß, in dem die Leserschaf­t insgesamt immer weiblicher wird, dominieren gerade in diesen Büchern starke Frauenfigu­ren. In „Über Carl reden wir morgen“suggeriert schon der – etwas sperrige – Titel, dass es hier anders sein könnte. Denn auch wenn in diesem Roman ungewöhnli­che und mutige Frauen vorkommen, entscheide­n die Männer das Schicksal dieser Familie – zum Besseren und zum Schlechter­en, manchmal auch zum Katastroph­alen.

Gemeinsam ist allen Brugger-Männern die Besessenhe­it, wie man sein Glück nicht nur findet, sondern es auch festhält. Albert Theodor Brugger, der 1868 die elterliche Mühle verlässt, zwölf Jahre lang dank der k. u. k. Marine einiges von der Welt sieht, heiratet und zusätzlich zur Müllerei ein florierend­es Handelsunt­ernehmen samt Kaufhaus aufbaut, beschäftig­t die Frage nach dem Glück schon als Kind: „Er wusste nur eines: Großes Glück hatte ein Mann allein schon deshalb, weil er als Mann geboren worden war, zusätzlich konnte er dann noch sein Glück machen, indem er tüchtig war und es zu etwas brachte. Wohingegen eine Frau nur von Glück reden konnte, wenn sie bei einer Geburt nicht elendig starb. Er war froh, als Bub auf die Welt gekommen zu sein.“

Das Helfen ist des Müllers Lust. Dieser Gedanke wird Albert sein ganzes Leben begleiten – und er wird ihn leben, im Guten. Seine vier Kinder – die Zwillingss­öhne Carl und Eugen, Gustav und Elisabeth – wissen, dass der Vater

Judith W. Taschler „Über Carl reden wir morgen“

Zsolnay-Verlag 460 Seiten 24,70 Euro

 ?? Maria Noi ?? Judith W. Taschler ist im Mühlvierte­l aufgewachs­en, mit sechs Geschwiste­rn, vielen Tieren und Büchern.
Maria Noi Judith W. Taschler ist im Mühlvierte­l aufgewachs­en, mit sechs Geschwiste­rn, vielen Tieren und Büchern.
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