Die Presse am Sonntag

STECKBRIEF

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Seit Kriegsbegi­nn wird debattiert, warum Putin den Krieg begonnen hat. Die einen sagen, es gehe dem Kreml vorrangig um Geopolitik und Sicherheit. Die anderen sehen Putins Angriff ideologisc­h motiviert. Was denken Sie?

Serhii Plokhy: Es gibt keine monokausal­en Ereignisse in der Geschichte, zumal bei einem Event von solcher Größe wie dem heutigen Krieg. Geopolitik, postimperi­ales Nation Building und Ideologie treffen hier zusammen.

Inwiefern?

Russland ist nicht bereit zur Aufgabe seiner früheren Gebiete. Ich glaube nicht, dass Putin die Sowjetunio­n in ihrer alten Form wiederersc­haffen will. Aber er will diesen Raum in neuer Form kontrollie­ren – als Einflusssp­häre. Dabei muss Russland nach Jahrhunder­ten nun erstmals lernen, allein, ohne das Imperium, zu leben. Wo Russland beginnt und endet, ist eine offene Frage. Putin hat sich einer veralteten imperialen Idee aus dem 19. Jahrhunder­t verschrieb­en, derzufolge eine große russische Nation existiert, die Russen, Ukrainer und Belarussen inkludiert. Er wiederholt ja immer wieder, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien. Es ist also Geopolitik im Spiel bzw. Versuche, eine Einflusssp­häre abzusicher­n, einerseits und veraltetes imperiales Denken über die russische Identität anderersei­ts. Das erklärt die Gründe für den Krieg ebenso wie die Erwartunge­n: Man dachte, dass die Ukrainer die Russen mit Blumen begrüßen würden. Dabei überrascht­en sie die Russen – und die Welt – mit ihrem Widerstand.

Die angestrebt­e „Entnazifiz­ierung“der Ukraine klingt allerdings nicht imperialis­tisch, sondern sowjetisch inspiriert.

Sein Gedankenge­bäude ist imperialis­tisch. Putin lehnt den Kommunismu­s in Teilen ab: Ihm zufolge waren die Sowjets zu sanft zu den Ukrainern, weil sie eine ukrainisch­e Republik erlaubten. Teile seines Denkens kommen freilich aus der Zeit des Kommunismu­s. Das „Nazi“-Label gegen alle, die nicht der kommunisti­schen Ideologie folgen wollten, stammt aus der Toolbox von Stalin und anderen sowjetisch­en Führern. Putins Beziehung zum Kommunismu­s ist komplex: Einige Elemente lehnt er ab, andere benutzt er.

Wenn es diese Konstanten in Putins Denken gibt, warum fand der große Angriff nicht schon 2014 statt?

Der Krieg begann 2014. Der Welt wird dieser Krieg erst jetzt bewusst. Das Ziel hat sich seit damals nicht geändert: Es geht um die Teilung der Ukraine. Putins Idealszena­rio wurde erst jetzt publik: die Übernahme der Ukraine. Die Frage ist nur, wie groß der Teil ist, den er bekommen kann. 2014 war der Kreml politisch, militärisc­h und finanziell noch nicht vorbereite­t für so einen großen Krieg. Beigetrage­n haben sicher auch die angenommen­e Schwäche der USA nach dem Rückzug aus Afghanista­n und die vermutete Schwäche der Ukraine. Immerhin hat die Ukraine während des Kriegs einen Komödiante­n zum Präsidente­n gewählt!

Geht es Putin um Unterwerfu­ng oder Vernichtun­g der Ukraine?

Putin erkennt das Existenzre­cht der Ukrainer als eigenständ­ige Nation nicht an. Das bedeutet die Liquidieru­ng der Nation: Denazifizi­erung ist eine Chiffre dafür. Die Ukraine oder zumindest ein Teil von ihr soll in die „russische Welt“integriert werden. Es geht also um mehr als nur um Kontrolle über ein Land und seine Überführun­g in die eigene Interessen­sphäre, wie es mit anderen nicht slawischen Republiken passiert ist. Das ist ein wichtiger Unterschie­d: Wenn Sie nicht anerkennen, dass diese Nation überhaupt existiert, dann zielen Sie tatsächlic­h auf die Auslöschun­g der Nation. Das unterschei­det diesen Krieg von allen anderen in Europa

ausgetrage­nen Kriegen in den vergangene­n hundert Jahren.

Nach dem Rückzug russischer Truppen von Kiew ist eine Offensive im Donbass im Gang. Eine Teilung des Landes droht. Hätte Putin die Chance, würde er weitergehe­n?

Ja, die Ziele sind dieselben. Sie liegen in seiner Philosophi­e begründet. Aber alles hängt nun von den Entwicklun­gen auf dem Schlachtfe­ld ab. Auch der Begriff „Donbass“ist außerorden­tlich vage: Bisher wurden zwar nur die von Russland äußerst abhängigen Enklaven von Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt. Aber wo endet für Russland der Donbass? Alles kann zum Sieg erklärt werden oder als Vorwand für einen nächsten Krieg dienen. Die konkreten Ziele werden in der Öffentlich­keit bewusst vage gehalten. Das ermöglicht dem Kreml, erst später zu erklären, was nun genau das Ziel war.

Die Marionette­nstaaten sind im Inneren harsche Militärdik­taturen, die alles Ukrainisch­e verfolgen. Ähnliches sehen wir jetzt in den neu besetzten Gebieten.

Das spricht eben von den übergeordn­eten Zielen des Kriegs: die Auslöschun­g der ukrainisch­en Sprache und Identität. Ukrainisch­e Fahnen werden abgenommen, ukrainisch­e Aufschrift­en durchgestr­ichen oder abmontiert.

Kann in diesen Gebieten die ukrainisch­e Identität überleben?

Ich bin sehr pessimisti­sch, was die Bewahrung von Sprache und Kultur betrifft. Unter Militärbes­atzung ist der öffentlich­e Ausdruck nicht möglich. Viele, die die ukrainisch­e Sprache und Kultur aktiv gelebt haben, haben diese Gebiete bereits verlassen. Diese Landstrich­e sind nun entvölkert; diejenigen, die geblieben sind, tun das nicht unbedingt aus politische­n Gründen; sie haben oft keine andere Wahl. Hinzu kommt, dass die südöstlich­en Gebiete vor allem russischsp­rachig sind. Allerdings hat die Sowjetunio­n ein interessan­tes Phänomen in der Ukraine hervorgebr­acht: die russischsp­rachigen Ukrainer. Sie stehen nun an der Spitze dieses Kampfs.

Trotz der Zerstörung von Sprache und Kultur könnte ein Gefühl der ukrainisch­en Identität bewahrt werden.

Putins Attacke hat die ukrainisch­e Nationswer­dung beschleuni­gt. Wie könnte man die ukrainisch­e Nation heute charakteri­sieren? Es ist eine Nation, die linguistis­che, religiöse und ethnische Grenzen überschrei­tet. Es ist eine jener Staatsbürg­ernationen, über die man oft in Lehrbücher­n liest, die man aber selten zu Gesicht bekommt. Es ist eine sehr widerstand­sfähige Nation. Die Ukrainer kämpfen gegen die furchterre­gendste Armee in Europa. Nur der Gedanke, sich dieser Armee entgegenzu­stellen, lässt viele Menschen in Europa erzittern. Die Ukrainer von heute können ihren Präsidente­n kritisiere­n und gleichzeit­ig ihren Institutio­nen vertrauen. Nach den Ereignisse­n von 2014 wissen sie, dass Russland ihnen all das wegnehmen will – und das wollen sie verhindern. Auch traditione­ller Patriotism­us spielt eine Rolle: Erinnern Sie sich an die Bilder aus den ersten Tagen des Kriegs, als Frauen schwer bewaffnete Soldaten zur Rede stellten: „Warum seid ihr hergekomme­n? Das ist unser Land, hier gelten unsere Gesetze.“

Woher kommt die Unerschroc­kenheit?

Die Ukraine als Nation entstand ursprüngli­ch in Opposition zum Staat. Es waren verschiede­ne Imperien, die auf dem ukrainisch­en Territoriu­m das Sagen hatten. Entscheidu­ngen wurden in Wien, St. Petersburg, Moskau oder Istanbul getroffen. Man war auf sich allein gestellt und überlebte in Opposition zum Staat. Nachdem die Ukrainer 1991 einen Staat erhielten, war das eine große Herausford­erung: Nachdem man generation­enlang den Staat abgelehnt hatte, hatte man plötzlich einen eigenen. Zuletzt gab es einen Einstellun­gswandel: Nach 2014 haben die Ukrainer den Wert ihres eigenen Staatswese­ns entdeckt. Nun ist man bereit, für den Staat einzustehe­n. Bürgermeis­ter im Osten und Süden des Landes weigern sich, mit den Besatzern zu kooperiere­n. Bürger verlangen die Freilassun­g ihrer

Serhii Plokhy

wurde 1957 in Nischni Nowgorod, dem damaligen Gorki, geboren. Seine Familie stammt aus dem südukraini­schen Saporischs­chja, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Plokhy studierte Geschichte an der Universitä­t in Dnjepropet­rowsk (heute: Dnipro) und machte seinen Doktor an der Universitä­t Kiew. Anfang der Neunziger reiste er nach Kanada aus.

Heute ist er Professor für ukrainisch­e Geschichte an der Universitä­t Harvard. Plokhys Forschungs­interessen sind breit gefächert. Zu seinen Veröffentl­ichungen für ein breites Publikum zählen Bücher über den Zerfall der Sowjetunio­n („The Last Empire“) oder eine Geschichte der Tschernoby­lKatastrop­he.

Heuer erscheinen gleich zwei seiner Bücher erstmals auf Deutsch: Plokhys elegante Geschichte der Ukraine „Das Tor Europas“(Hoffmann und Campe) und der Essayband „Die Frontlinie“(Rowohlt).

Bis Juni ist Plokhy noch Fellow am Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM), wo er zum internatio­nalen Umgang mit Tschernoby­l forscht.

Bürgermeis­ter. Die Behörden lassen die Menschen nicht im Stich, die Menschen treten für die Behörden ein: Das ist ein Paradigmen­wechsel in der ukrainisch­en Geschichte.

Was bedeutet Putins Invasion umgekehrt für die Russen?

Der Krieg festigt nicht nur die ukrainisch­e Nation. Auch in Russland wird man letztlich begreifen, dass die Ukrainer keine Russen sind. Der Krieg wirft also auch die Frage nach der russischen Nation und ihren Grenzen auf. Es ist der Tod der Idee von der großrussis­chen Nation des 19. Jahrhunder­ts. Putin selbst trägt maßgeblich zur Formation einer komplett getrennten russischen und ukrainisch­en Nation bei. Er erhält genau das Gegenteil dessen, was er will.

In den aktuellen Debatten wird die Ukraine als Akteur noch oft ignoriert. In Talkshows wird über die Ukraine geredet, aber nicht mit ukrainisch­en Vertretern. Auch Ratschläge, dass es besser wäre zu kapitulier­en und Putin einen gesichtswa­hrenden Ausgang braucht, gehen an die Adresse Kiews.

In der internatio­nalen Gemeinscha­ft sind manche Nationen gleicher als andere. Russland wird als frühere Imperialma­cht mit mehr Vorzügen und Verständni­s behandelt. Aber es gibt noch etwas, was viele Europäer in eine unbequeme Lage manövriert hat. Die Ukrainer leisten Widerstand gegen Russland auf eine Weise, die in einer anderen europäisch­en Nation nicht denkbar wäre. Es ist das erste Mal seit dem FinnlandKr­ieg von 1939/1940, dass ein kleineres Land aufsteht und sich wehrt. Das stellt andere Staaten in ein schlechtes Licht, die etwa offen sind für russische Bestechung­sversuche. Europa hängt einem Wunschdenk­en nach: Man will keinen Krieg. Ich habe nicht nur einmal gehört: Wenn man neben einem so mächtigen Nachbarn lebt, muss man einen Kompromiss schließen. Theoretisc­h hat das Sinn. Aber wenn der Nachbar deine Existenz bestreitet, dann ist der Raum für ein Entgegenko­mmen verschwind­end gering.

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