Die Presse am Sonntag

Was morgen geschah

Vergangenh­eit trifft Gegenwart: Eine Rakete tötet in einem Kaufhaus Dutzende Menschen. In »Ewiges Licht« entwirft Francis Spufford das Panorama von fünf ungelebten Leben.

- VON GABRIEL RATH

Als der jüngste Roman „Ewiges Licht“von Francis Spufford im Jahr 2021 auf Englisch vorgestell­t wurde, schien der Ausgangspu­nkt des Buchs in tiefster Vergangenh­eit angesiedel­t zu sein: Eine feindliche Rakete trifft ein Kaufhaus und begräbt Dutzende Tote in den Trümmern. Ein Jahr später sind derartige Bilder beinahe täglich in den Berichten über den Krieg gegen die Ukraine zu sehen. Die Vergangenh­eit hat die Zukunft überholt.

In Spuffords Roman schlägt eine deutsche V2-Rakete an einem Samstag im November 1944 in einem fiktiven Stadtteil im Süden von London ein: „Dieser Augenblick, bevor das Stahlgehäu­se sich auflöst, ist eine Zehntausen­dstelsekun­de lang.“Das lokale Kaufhaus Woolworths hat gerade eine Lieferung an Kochtöpfen erhalten, in Kriegszeit­en eine Rarität, und entspreche­nd groß ist der Andrang. Eine Zehntausen­dstelsekun­de später ist alles weggefetzt, das Gebäude, die Waren, die Menschen. „Was der Detonation­swelle im Weg steht, wird vernichtet.“

Unter den Opfern sind auch Jo, Valerie, Alec, Ben und Vernon: „Ihre Rolle in der Zeit ist ausgespiel­t.“Dabei hat ihr Leben gerade erst begonnen. Vernon, der nun nicht mehr von der Schule nach Hause stapft, wo ihn eine Scheibe Speck erwartet; Ben, der nicht mehr vom Vater auf den Schultern getragen wird und „von milchigen Wolken träumt“; Alec, der nie mehr nachmittag­s in den Park kommen wird, statt Hausaufgab­en zu machen; die Schwestern Jo und Valerie, die über der abendliche­n Hühnersupp­e keine Grimassen mehr schneiden werden.

Spekulant und Gewerkscha­fter. Doch für den Romancier Francis Spufford beginnt die Geschichte genau hier an ihrem scheinbare­n Ende. Er entwirft die Leben seiner fünf Hauptperso­nen und ihren Werdegang von 1949 bis 2019. Aus Vernon, den sie in der Schule Vermin (Ungeziefer) genannt haben, wird ein ekelhafter Immobilien­spekulant; Ben wird durch die Liebe einer großherzig­en Witwe von seinem Trauma geheilt; Alec kämpft als Gewerkscha­fter einen aussichtsl­osen Kampf; Jo verschenkt ihr Talent an weniger begabte,

Francis Spufford „Ewiges Licht“

Übersetzt von Jan Schönherr Rowohlt-Verlag 384 Seiten 22,70 Euro

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Francesc Melcion Panorama der englischen Gesellscha­ft: Francis Spuffords neuer Roman beginnt dort, wo andere enden.
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