Was morgen geschah
Vergangenheit trifft Gegenwart: Eine Rakete tötet in einem Kaufhaus Dutzende Menschen. In »Ewiges Licht« entwirft Francis Spufford das Panorama von fünf ungelebten Leben.
Als der jüngste Roman „Ewiges Licht“von Francis Spufford im Jahr 2021 auf Englisch vorgestellt wurde, schien der Ausgangspunkt des Buchs in tiefster Vergangenheit angesiedelt zu sein: Eine feindliche Rakete trifft ein Kaufhaus und begräbt Dutzende Tote in den Trümmern. Ein Jahr später sind derartige Bilder beinahe täglich in den Berichten über den Krieg gegen die Ukraine zu sehen. Die Vergangenheit hat die Zukunft überholt.
In Spuffords Roman schlägt eine deutsche V2-Rakete an einem Samstag im November 1944 in einem fiktiven Stadtteil im Süden von London ein: „Dieser Augenblick, bevor das Stahlgehäuse sich auflöst, ist eine Zehntausendstelsekunde lang.“Das lokale Kaufhaus Woolworths hat gerade eine Lieferung an Kochtöpfen erhalten, in Kriegszeiten eine Rarität, und entsprechend groß ist der Andrang. Eine Zehntausendstelsekunde später ist alles weggefetzt, das Gebäude, die Waren, die Menschen. „Was der Detonationswelle im Weg steht, wird vernichtet.“
Unter den Opfern sind auch Jo, Valerie, Alec, Ben und Vernon: „Ihre Rolle in der Zeit ist ausgespielt.“Dabei hat ihr Leben gerade erst begonnen. Vernon, der nun nicht mehr von der Schule nach Hause stapft, wo ihn eine Scheibe Speck erwartet; Ben, der nicht mehr vom Vater auf den Schultern getragen wird und „von milchigen Wolken träumt“; Alec, der nie mehr nachmittags in den Park kommen wird, statt Hausaufgaben zu machen; die Schwestern Jo und Valerie, die über der abendlichen Hühnersuppe keine Grimassen mehr schneiden werden.
Spekulant und Gewerkschafter. Doch für den Romancier Francis Spufford beginnt die Geschichte genau hier an ihrem scheinbaren Ende. Er entwirft die Leben seiner fünf Hauptpersonen und ihren Werdegang von 1949 bis 2019. Aus Vernon, den sie in der Schule Vermin (Ungeziefer) genannt haben, wird ein ekelhafter Immobilienspekulant; Ben wird durch die Liebe einer großherzigen Witwe von seinem Trauma geheilt; Alec kämpft als Gewerkschafter einen aussichtslosen Kampf; Jo verschenkt ihr Talent an weniger begabte,
Francis Spufford „Ewiges Licht“
Übersetzt von Jan Schönherr Rowohlt-Verlag 384 Seiten 22,70 Euro