Jugend, Freiheit und die große weite Welt
Seit 50 Jahren gibt es Interrail. Um 1990 erlebte das Zugticket seinen Höhepunkt, bis die Billigflüge kamen. Jetzt geht es wieder aufwärts. Mitglieder der Redaktion erinnern sich an ihre Reisen.
Schwer war das nicht. Fragt man in der Redaktion nach, ob jemand etwas über seine Interrail-Erlebnisse schreiben möchte, erntet man strahlende Gesichter, die in Erinnerungen schwelgen und sehr gern darüber Auskunft geben. Über lustige Geschichten, die oft mit einem (jugendlichen) Gemeinschaftsgefühl, finanziell bedingtem Improvisationstalent und einem Gefühl der Freiheit zu tun haben.
Und: Diese Erfahrungen ziehen sich durch einige Generationen. Seit 1972 gibt es das Zugticket, das günstig durch mehrere europäische Länder führt. Seitdem hat sich nicht nur das Ticket selbst gewandelt, sondern auch die Zahl jener Menschen, die es nutzen. So war das Interrailticket früher auf Menschen bis 27 beschränkt, seit rund zehn Jahren steht es allen Altersgruppen offen. Dafür ist es heute strukturierter, es gibt nicht ein
Sommer 1991: Zwei Tage nach meinem 18. Geburtstag waren Tramperrucksack und Stangenzelt gepackt, Landkarten und Lektüre (nur Taschenbücher!) verstaut. Mit dem Nachtzug reisten wir von Feldkirch in die große Freiheit: Paris, Cherbourg, Mont-SaintMichel, Nantes, Verdun, Bordeaux, Biarritz, Brüssel, Köln . . . Schon in Paris kam das Portemonnaie im Camping Bois de Boulogne abhanden, die Reisechecks waren glücklicherweise im Täschchen um den Hals. 165 Francs (25 Euro) kosteten drei Tage campen in
Ticket, sondern verschiedene Modelle, bei denen der Zeitrahmen und die Tage, an denen der Zug genutzt werden kann, ausgewählt werden.
In den 1970er-Jahren lagen die Verkaufszahlen bei rund 100.000 Tickets pro Jahr. Seinen Höhepunkt erlebte Interrail um 1990 mit 400.000 Pässen jährlich. Als dann die Billigflüge aufkamen, ging es bergab. Erst 2004 lag man wieder bei den anfänglichen 100.000 Tickets. Seitdem geht es bergauf: 2019 waren es schon rund 350.000 Tickets. Dann kam bekanntlich die Pandemie. „Wir sehen aber, dass immer mehr Leute zurückkehren, die lang nicht Zug gefahren sind. Gleichzeitig wächst eine neue Generation an Bahnfahrern heran“, sagt ÖBB-Sprecher Bernhard Rieder. Der Anteil der erwachsenen Interrail-Nutzer liegt heute bei 30 Prozent. Leicht möglich, dass auch ein paar Wiederholungstäter darunter sind. der Hauptstadt, wie die aufgehobene Rechnung belegt. Ein dreigängiges Menü in einem feinen Restaurant war dafür angesagt. Später mussten dem empfindlichen Feinschmeckermagen meines Freundes dann auch HippGläschen genügen, die konnte man über dem Gaskocher auf dem Campingplatz fein wärmen.
Ob man abends einen Schlafplatz finden würde, war beim Aufbruch natürlich ungewiss. Klar: Sonntags brauchte man eine Telefonzelle, sonst machten sich die Eltern Sorgen. Ob wir auch Hotelzimmer telefonisch reservierten? Kann mich nicht erinnern. Dafür an elende Fußmärsche zu leistbaren Unterkünften. Oder man strandete: In Saint-Nazaire – der Anschlusszug war weg – konnten wir nur mit Mühe die Essenseinladung eines Typs abwehren. Er habe so schöne Kochmesser!
In den Zügen gab es nie Probleme. Bis auf die letzte Etappe: In St. Anton am Arlberg wurde ich aus dem Zug geworfen. Der Schaffner befand, Interrailtickets seien überall, aber sicher nicht in Tirol, gültig. dm
Supermarktcamembert, von dem wir uns im schicken Nizza ernährten, weil besagtes Budget kurz vorher Dieben zum Opfer gefallen war. Die vom Interrailticket, das im Mistkübel wiedergefunden wurde. Die vom Nachtzug nach Porto, der uns letztlich in Lissabon ausspuckte. Oder eben die von jener Nacht am Strand, nach der unsere Leidensgenossen Reisegenossen wurden.
Dass ich überhaupt ein Interrailticket löste, lag an genau solchen Abenteuergeschichten. Etwa an der vom regennassen Backpacker, der kurzerhand Kurs auf Spanien nahm, um dort sein Zelt zu trocknen: meinem Vater. beba
Das Schlimmste war der Geruch der Turnschuhe, die damals noch nicht Sneakers hießen. Vier Wochen mit Rucksack unterwegs zu sein, hieß, ein Paar Schuhe musste reichen. Irgendwo in Spanien kamen dann Espadrilles dazu, aber nachdem sie einmal nass geworden waren, wogen sie schwer und rochen nach nassen Kühen. Manche Passagiere verließen deswegen fluchtartig das Abteil, und wir hatten mehr Platz.
Es war ein heißer Juli im Jahr 1993, und unser Plan war mit Kuli in den Collegeblock gekritzelt: eine möglichst weite Route quer durch Europa um möglichst wenig Geld. Keinen Tag früher nach Hause zu kommen, als es das Interrailticket erlaubte, das bedeutete, das Budget musste reichen. Wir hatten ein paar US-Dollar in bar und ein Päckchen Traveller-Cheques gemeinsam mit Pass und Ticket eng um den nackten Bauch geschnallt. Das war das Heiligtum, alles durften sie uns stehlen, nur das nicht.
Bankomaten gab es noch nicht, und der Euro war noch Lichtjahre entfernt, das Geldwechseln musste also genau geplant sein: An einem Sonntag in ein neues Land einzureisen, ohne Vorräte im Gepäck, passierte nur einmal. Die Banken jagten einem mehr Respekt ein, als die am Strand patrouillierenden Polizisten, die Camper vertrieben wie lästige Insekten. Man betrat die marmornen Hallen der Geldhäuser wie Unwürdige und wurde auch so behandelt – Passkontrolle, mehrmaliges Kontrollieren der Schecks, unwilliges Aushändigen der Devisen. Gut, die Schuhe halfen nicht wirklich.
Im Juni 2010 entwarfen wir im Schulatlas die Reiseroute, im August war es dann so weit: Interrail! Zu sechst brachen wir in der niederösterreichischen Provinz auf und schafften es über Florenz, Nizza, Barcelona und Madrid bis nach Lissabon und über Paris und Amsterdam wieder nach Hause. In Florenz verbrachten wir die Nacht noch in einem Quartier voller Ungeziefer, in Nizza scheiterte das Vorhaben, am Strand zu übernachten, an einer Mischung aus Vernunft und Feigheit. Der Versuch, sich zu sechst in ein Hotel-Doppelzimmer zu schummeln, missglückte, der Portier ließ uns schließlich auf dem Boden schlafen.
Erholsame Nächte waren uns auch die weitere Reise hindurch nicht vergönnt, die Zugstrecke Nizza–Barcelona bestritten wir mangels Platzreservierung im Fahrradabteil, und in Amsterdam verbrachten wir eine Nacht im strömenden Regen auf einer Bushaltestelle, nachdem wir zuerst aus einem Club und dann aus dem Bahnhofsgebäude geschmissen wurden. An der Sinnhaftigkeit unserer Reise hat uns
Abgesehen von den Grenzen der Finanzen war die Freiheit überwältigend: Wir folgten dem Instinkt und dem Takt der Nachtzüge – um Übernachtungen zu sparen – und hielten den Pakt, den wir zwei besten Freundinnen geschlossen hatten: Übernachtet wurde immer draußen, entweder auf dem Campingplatz oder eben „wild“. Die Legenden von Interrail-Reisenden leben von den schrägsten, gefährlichsten, unbequemsten Orten, an denen man irgendwann dann doch ein Auge zugemacht hat. Bier half.
Unser Höhepunkt war die Übernachtung auf einer riesigen Wiese am Ufer irgendeines Flusses am Rand von Sevilla, wo wir spätnachts angekommen waren. Beim Erwachen blickten wir in Dutzende Augenpaare. Wir waren umstellt von Reisebussen. Die Wiese war ein Busparkplatz.
Alles, was verboten war. Sonst folgten wir der Devise, dass man jede Dummheit selbst begehen muss. Autostoppen etwa, das mit einer wilden Flucht quer über die steinigen Hänge der Sierra Nevada endete. Oder ungeschicktes Hantieren mit Gaskartuschen, was die Reise beinahe beendete. Niemand zu Hause erfuhr etwas von den Brandwunden und den kürzeren Haaren. Wir schickten Karten und riefen wie ausgemacht genau zweimal an, um nichts zu erzählen. Neue Bekanntschaften schrieben ihre Adressen auf ein Stück Papier, falls sich die Wege noch einmal kreuzen sollten. Niemanden haben wir wiedergesehen. Wir schworen uns, nun jedes Jahr auf Interrail zu fahren. Es blieb bei der einen Reise. ki