»Sohn, du bist ein Verräter!«
Der Krieg in der Ukraine entzweit auch so manche russische Familien und Freundeskreise. Drei Protokolle von Menschen, die über Risse in ihrem Lebensumfeld erzählen.
Der Krieg in der Ukraine, der in Russland nicht als solcher benannt werden darf, sorgt für Streit in Familien quer durchs Land. Frauen reden nicht mehr mit ihren Männern, Großväter verstoßen ihre Enkel und so fort. Zurück bleiben Wut, Enttäuschung und Einsamkeit. „Die Presse am Sonntag“hat mit drei Russen gesprochen, wie man in ihren Familie über die Lage spricht und wohin das führte. Zwei davon haben erlaubt, ihre vollen Namen zu nennen.
Michail (19 Jahre), Student aus Jekaterinburg
IIch komme aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Jekaterinburg, einem Provinznest. Schon als Schüler setzte ich mich für städtebauliche Projekte ein, gestaltete Schaukeln in den Höfen neu, wollte, dass meine Stadt schöner aussieht. Meine Eltern sagten immer: „Warum machst du das eigentlich? Es gibt wirklich Wichtigeres.“Ich aber war immer überzeugt davon, dass wir alle ein besseres Leben haben werden, wenn dieses Leben einfacher wird.
Und so wollte ich zum Staat, in die Stadtplanung. Wollte Projekte gestalten, damit das, was uns umgibt, angenehmer wird. Ich fing an, Bauwesen zu studieren. Und jetzt? Zum Staat? Ich will nicht einmal mehr meine Familie sehen! Vor zwei Wochen bin ich aus der Wohnung meiner Mutter, die ich jedes Wochenende von Jekaterinburg aus besucht hatte, abgerauscht. Es war ein heftiger Streit. Mein Großvater nannte mich einen „Bandera-Anhänger“. Früher wurden ukrainisch-nationalistische Anhänger von Stepan Bandera so genannt, heute ist das ein russisches Schimpfwort für alle Ukrainer (siehe Lexikon rechts). Meine Mutter nannte mich schreiend „Verräter“.
Der Zwist hatte eigentlich schon am 24. Februar angefangen, als die ersten russischen Bomben auf die Ukraine fielen. Meine Familie sagt nicht „Krieg“dazu, sie nennt ihn „militärische Spezialoperation“, wie er offiziell in Russland genannt werden muss. Meine Mutter spricht ohnehin wie das russische Staatsfernsehen, Satz für Satz. Russland sei gezwungen gewesen, die
Menschen in der Ukraine zu „befreien“, es habe keine Wahl gehabt, die Zivilbevölkerung leide nicht. Die Ukraine sei kein echtes Land, die Ukrainer seien das Böse schlechthin. Und hätte Russland nicht angegriffen, hätten die Ukrainer, getrieben vom Westen, das leckerste Stück Russlands abgebissen.
Sie sagt das wirklich. Meine Mutter! Und sie glaubt auch daran. Ich habe es erst ruhig mit Fakten versucht. Aber mit Fakten ist nicht durchzudringen. Ich habe ihr auch den wirtschaftlichen Niedergang Russlands beschrieben. Es hilft nichts. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging.
Schweigen herrscht nicht nur zu Hause. Schweigen herrscht auch auf der Straße, im Bus, an der Uni. Man weiß nie, was das Gegenüber denkt, wie es sich positioniert. Ich sage selbst vor Bekannten nichts mehr. Es ist eine schwer erträgliche Einsamkeit. Eine Uni-Dozentin für Wirtschaft erklärt uns allen Ernstes, wie gut Sanktionen für Russland seien. Mir wird übel dabei. Ständig laufe ich aus dem Unterricht raus, brauche kaltes Wasser. Sie macht sich lustig darüber: „Na, Michail, schwacher Magen?“Wenn sie wüsste, was ich ihr alles ins Gesicht schreien will. Aber ich bleibe still. Ich wollte nie weg aus Russland. Jetzt denke ich immer öfter über Auswanderung nach.
Maria Semerenko (36), Künstlerin aus Koroljow, derzeit in Aserbaidschan
I„Fake, alles fake“. Ich glaube, das ist der meistgebrauchte Ausdruck, den meine Eltern im Gespräch mit mir verwenden. Egal, was ich ihnen über das, was unser Staat in der Ukraine anstellt, erzähle, zeige, vorlege. Sie wollen es nicht hören. Sie sagen es auch so: „Du hast deine Nachrichten. Wir haben unsere Nachrichten. Und unseren vertrauen wir.“Dass ihre „Nachrichten“aber reinste Propaganda sind, hinterfragen sie nicht. Keine Sekunde lang.
Mein Vater ist Ingenieur, er lobte immer die Technik aus dem Westen, hat eine Zeit lang in London gelebt. Meine Eltern sind viel durch Europa gereist. Meine Mutter geht in die Kirche. Und jetzt sagen sie: „Alles fake!“Oder: „Die 90er haben wir auch überstanden, das hier überstehen wir auch.“Sie lügen sich in die Tasche, weil sie sich nicht aus ihrer Komfortzone bewegen wollen.
Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt. Unser Verhältnis ist angespannt. Aber es sind meine Eltern, ich will nicht, dass ein Riss durch unsere Familie geht. Der Riss wird nun allerdings immer größer. Ich habe immer viele Fragen gestellt, war eine Suchende. In der Kirche, in sektenähnlichen Verbindungen, in marxistischen Kreisen. 2011 war ich auf meiner ersten regierungskritischen Demo. Es war schön, zu erleben, dass ich nicht allein war im Hinterfragen dessen, was in unserem Land passiert. Vor der Verfassungsänderung vor zwei Jahren malte ich eines Abends
»Meine Mutter spricht wie das russische Staatsfernsehen, Satz für Satz.«
war immer diese innere Unruhe da, immer dieser Gedanke im Hinterkopf, dass unser Land sich in eine gefährliche Richtung entwickelt. Nun ist Krieg.
Meine Intuition hat mich nicht verlassen. Noch im Jänner holte ich meine Familie hierher nach Florida, mein achtjähriger Sohn besucht nun hier die Schule. Ich bin jahrelang zwischen den USA und Russland gependelt, seit 2020 lebe ich fest hier. Meine Frau wollte ihr Leben in Russland nicht so schnell aufgeben. Auch jetzt zweifelt sie noch, sagt: „Alle Seiten lügen.“Gespräche mit ihr sind schwierig.
»Artjom, du darfst nicht schlecht über Russland reden. Das darf man einfach nicht.«
Noch schwieriger ist es mit meiner Familie und meinen Freunden in Russland. Für sie bin ich ein Verräter. Sie sagen: „Na klar, du hast dich den Amerikanern verkauft, sie sind jetzt deine Herren, du dienst ihnen.“Das verletzt. Mein bester Freund erzählt mir etwas von „Die Ukrainer sind selbst schuld“, meine Oma, bei der ich aufgewachsen bin, sagt: „Artjom, du darfst nicht schlecht über Russland reden. Einfach, weil man es nicht darf.“Mein Onkel und meine Tante halten die Taten der russischen Truppen in Mariupol, Butscha, Kramatorsk für Fälschungen. So, wie es ihnen das TV vorbetet. „Die Ukraine ist wie ein kleiner Bruder, der sich schlecht benommen hat, und Russland haut ihn, wie große Brüder das halt tun, um kleine zur Besinnung zu bringen. Danach wird der Kleine dem Großen dankbar sein“, sagen sie.
Ich kann das nicht fassen. Aber mich abwenden? Nein, das sind meine Leute. Ich handle nach Sokrates: Ich stelle Fragen. Immer wieder Fragen. Das ist meine Art, sie mit ihrer Verblendung zu konfrontieren. Wie lang wollen sie sich und anderen denn noch erzählen, dass sie all den Dreck um sie herum so hinnehmen? Eines Tages will ich in ein anderes Russland zurück. Noch aber ist das ein ferner Traum.