Wo Entführungen zum Alltag gehören
Das russische Heer entführt vor allem in den besetzten Gebieten der Ukraine Menschen, um Geld und Informationen zu erpressen – und den Willen der Bevölkerung zu brechen. Auch Katerynas Vater verschwand spurlos.
Melitopol, im Süden der Ukraine, nur eine Autostunde von der Schwarzmeerküste entfernt, fiel wenige Tage nach Kriegsbeginn (24. Februar) an einem Wochenende. Als die russischen Streitkräfte Ende Februar das Land überfielen, erwarteten sie vermutlich ein Melitopol nach dem anderen: Sie nahmen an, den ukrainischen Widerstand überall rasch brechen und die Städte direkt einnehmen zu können. War Melitopol nach russischer Lesart die erste große ukrainische Stadt, die erobert wurde – und sie ist noch immer russisch besetzt –, so bleibt sie doch ein Stachel im Fleisch der Russen. Sie ist eine Eroberung, aber auch ein Symbol des russischen Scheiterns: Die Bevölkerung zeigt kein Interesse, sich unterzuordnen.
Was folgte, ist die „Logik des Terrors“, wie die Anwältin und Menschenrechtlerin Oleksandra Matviichuk sagt. Das Regieren mit der Angst. Mit Repressionen. Gewalt. Entführungen.
Von Tag eins an nahm Katerynas Vater an den Protesten gegen die Besatzer teil. Er solle sich, als bekannter ukrainischer Aktivist, nicht allzu sehr exponieren, sagten seine Freunde, doch der 59-Jährige winkte ab. Bereits 2014 schloss er sich den Kämpfern gegen die prorussischen Kräfte im Donbass an. Aber er bekleide keine politische oder militärische Funktion, er sei kein Führer, sagt seine Tochter. Sie war es, die auf ihn einredete, Melitopol zu verlassen; sie sagte, seine Herzprobleme würden nicht besser, wenn er sich jeden Tag auf den Straßen gegen die Russen stelle. Die Familie fand einen Fahrer, der ihn in ukrainisch kontrolliertes Gebiet bringen sollte. An jenem Tag ging er außer Haus – „und das nächste, was wir wissen, ist, dass er an einem Checkpoint stand und kein Handy mehr hatte“. Der Fahrer hatte die Mutter angerufen: Die Russen würden ihren Mann festhalten. Es war das letzte Lebenszeichen. Katerynas Vater verschwand spurlos.
Zweite Welle. Entführungen, vor allem in den besetzten Gebieten, gehören zum Alltag in der Ukraine. Sie sind Teil der russischen Strategie, werden eingesetzt, um die Bevölkerung zu brechen, einzuschüchtern, Geld zu erpressen, um Geiseln für Gefangenenaustausche zu haben. Menschenrechtsaktivisten berichten von rund 250 Fällen, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Matviichuk vom Kiewer Centre for Civil Liberties berichtet, dass ihre NGO die Namen von 166 verschwundenen Personen in den besetzen Gebieten habe. „Die meisten von ihnen sind Teil der Zivilgesellschaft, Freiwillige, Menschenrechtler, Lokalpolitiker, aber auch Priester“, sagt die Anwältin. Von den Entführten seien bereits sechs Personen tot aufgefunden worden. „Es ist eine Taktik. Die Russen wollen den Widerstand eliminieren.“
Dass von den Entführungen insbesondere Journalisten und Lokalpolitiker bzw. Vertreter lokaler Behörden betroffen sind, bestätigt auch Politikwissenschaftler Mattia Nelles, der bis Kriegsbeginn in der Ukraine geforscht hat. „Es sind Menschen, die sich weigern, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten.“Nelles macht bisher zwei Wellen der Entführungen aus: Demnach diente die erste der gezielten Einschüchterung, wobei die Betroffenen nach einem gewaltvollen Verhör wieder freigelassen wurden. Die jetzige Welle gehe darüber hinaus: „Diejenigen, die jetzt in Gefangenschaft geraten, werden bestenfalls ausgetauscht.“Die Armee werde brutaler, immer mehr Menschen bleiben einfach verschwunden.
Als Iwan Federow entführt wurde, von einem Tross russischer Soldaten, die ihn aus dem städtischen Kulturzentrum zerrten, stülpten sie ihm einen Plastiksack über den Kopf. Zuvor hatte sich der Bürgermeister von Melitopol geweigert, die russischen Befehle in seiner besetzten Stadt umzusetzen. Mehrere Tage lang wurde Federow festgehalten, bei den nächtlichen Verhören waren Vertreter der russischen Geheimdienste anwesend, ist er sich sicher. „Ich gab mir selbst eine Überlebenschance von weniger als zehn Prozent“, sagte Federow nach seiner Freilassung dem „Spiegel“.
Doch er wurde freigelassen, und im Gegenzug kamen neun russische Soldaten frei. In ukrainischer Gefangenschaft sollen mehr als 1000 Russen sein. Auch um ausgetauscht werden zu können, wie Nelles sagt. Für die Organisation der Gefangenenaustausche zeigt sich die Vize-Regierungschefin der Ukraine, Iryna Wereschtschuk, verantwortlich. Viel ist über den Ablauf indes nicht bekannt.
Verbrannte Papiere. Nach dem Verschwinden von Katerynas Vater blieb ihre Mutter orientierungslos in der Wohnung zurück. Sie suchte alles zusammen, was mit ihrem Mann zu tun hatte, Dokumente, Bilder, die Zeugnisse eines Menschenlebens. Katerynas Mutter verbrannte alles und als russische Soldaten kurze Zeit später in die Wohnung einfielen, fanden sie nichts vor, kein einziges Dokument. Sie zogen mit leeren Händen ab. „Das Problem war“, erzählt Kateryna, „dass wir dann den ukrainischen Behörden nichts vorweisen konnten.“Der Vater war verschwunden, aber sie konnten seine Existenz nicht nachweisen. Kateryna, selbst nicht in Melitopol, drang über alle Kanäle im Behördendschungel so weit vor, bis sie einen der Familie bekannten Staatsdiener ausmachte, der die Identität des Vaters bestätigte. Sie meldeten ihn als abgängig. Dann hieß es warten. Die Mutter in Melitopol, die Tochter mittlerweile im Ausland, der Vater weiß Gott wo.
Der Anruf kam von einer unbekannten Nummer. Die Stimme war schwach, aber es war seine Stimme. Die Mutter, in der Melitopoler Wohnung, konnte es kaum glauben: Nach einem Monat war ihr Mann offenbar frei, in einem Spital irgendwo im Land, wohin ihn ukrainische Soldaten gebracht hatten. Vom Zimmernachbarn lieh er das Handy aus, um die einzige Nummer zu wählen, die er auswendig kannte.
Über die Hintergründe und den Prozess der Freilassung weiß die Familie kaum etwas, erzählt Kateryna. Von ihrem Vater erfuhr sie, dass er mit rund 50 anderen Gefangenen in einem mehr schlecht als recht fahrenden Lkw zu der Übergabe gebracht wurden, die Hände gebunden, eng beieinandersitzend. Die Ukrainer warteten dort mit russischen Gefangenen. Niemand sei in einem auch nur halbwegs guten Zustand gewesen, habe der Vater gesagt. Weder sie noch die anderen.
Die Geschichte seiner Gefangenschaft erzählt der Vater stückweise. Die
Tochter sagt: „Es sind zum Glück nicht viele Knochen gebrochen.“Er habe jeden Tag Gewalt erfahren. Mit einem Ohr höre er fast nichts mehr. Seine Augen waren die meiste Zeit verbunden, auch dann, als sie, wie es mehrfach passierte, den Ort wechselten.
An einem spezifischen Tag seien die russischen Soldaten besonders gewalttätig gewesen, sogar untereinander. Heute weiß Kateryna, dass es der Tag war, an dem das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, die Moskwa, sank (14. April). Arg viele Fragen hätten ihm seine Peiniger indes nicht gestellt. Einmal habe ihm ein Soldat unironisch dargelegt, dass Russland Frieden in die Ukraine bringe. Ein anderes Mal habe man Gefangene auf ein Feld mit ausgebuddelten Löchern gebracht und sie hineingestoßen, nur um sie später wieder herauszuholen. Obwohl Katerynas Vater nicht immer sah, seine Augen also zusammengebunden waren, bekam er mit: Manche Mitgefangene verschwanden. Und tauchten nicht mehr auf.
Coynash erkennt Parallelen zur annektierten Krim. Auch dort fanden Entführungen statt.
Keineswegs neu. Die Intensität der Entführungen hat seit Kriegsbeginn zwar zugenommen – doch ein neues Phänomen sind diese keineswegs. „Es passiert seit acht Jahren“, sagt Halya Coynash von der Menschenrechtsorganisation Kharkiv Human Rights Protection Group. Sie könne Parallelen zur annektierten Krim erkennen, als auch damals gezielt Menschen entführt wurden, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zur Kollaboration zu zwingen. Einige der Entführten, es handelte sich vor allem um junge Männer, wurden tot aufgefunden. Krimtataren, die nach der Annexion in andere Teile der Ukraine geflohen sind, geraten vor allem in Cherson erneut ins Visier der russischen Soldaten, sagt Coynash.
Aber nicht nur sie. Coynash erzählt vom Fall Vlad Buriak: Der 16-Jährige saß in einem Auto mit zwei Frauen und drei weiteren Kindern bzw. Jugendlichen in Saporischja, als sie von Soldaten angehalten wurden. Auf Buriaks Handy fanden sie ein Video von einem jungen, reumütigen russischen Soldaten, der gleich zu Beginn des Krieges in die Hände der Ukrainer geraten war. Ein viraler Clip, den mittlerweile alle kennen. Dennoch hielten die Soldaten Buriak fest, und als sie erfuhren, dass sein Vater in der Behörde von Saporischja arbeitet, nahmen sie ihn mit. Von dem Teenager fehlt jede Spur.
»Es sind zum Glück nicht viele Knochen gebrochen«, sagt Kateryna über ihren Vater.