Die Presse am Sonntag

Gut gebildet, aber nicht gekommen, um zu bleiben

Wer aus der Ukraine nach Österreich kommt, muss damit rechnen, unter seiner Qualifikat­ion zu arbeiten. Betriebe hoffen auf IT-Fachkräfte, Kellner und Zimmermädc­hen. Viele Ukrainer reisen weiter, die meisten wollen bald wieder nach Hause.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Zur Begrüßung gibt es Gratiskaff­ee aus dem Automaten in der hellen, sterilen Empfangsha­lle im Wiener Austria Center. Wo zuletzt die Massen hinströmte­n, um sich erst auf eine Covid-Infektion testen und dann dagegen impfen zu lassen, wurde im März das Erfassungs­und Beratungsz­entrum für kriegsvert­riebene Ukrainer eingericht­et. Hier wird die behördlich­e Maschineri­e in Gang gesetzt, angefangen von der Ersterfass­ung durch die Polizei bis hin zur ersten Auszahlung der Grundverso­rgung in bar. Auch medizinisc­he und psychologi­sche Unterstütz­ung werden angeboten, Wohnraumve­rmittlung obendrein. Und mittendrin: ein Stand des Arbeitsmar­ktservice, wo zweisprach­ige Mitarbeite­rinnen Auskünfte zur Jobsuche geben.

„Heute ist ein extrem ruhiger Tag“, sagt Anita Erhard aus der Diversity-Abteilung des Wiener AMS. Es ist Dienstagvo­rmittag, noch vorige Woche hätten sich hier die Massen gedrängt. Aber auch heute wird den AMS-Beraterinn­en nicht langweilig. Julia Korolova ist auf der Suche nach einem Laptop. Die 53-jährige Ukrainerin kam vor einer Woche nach Wien. Sie sei eigentlich Lehrerin für Geschichte und Englisch. Vor zwei Jahren habe sie ein Onlinestud­ium für Statistik und Big-DataAnalys­e begonnen, erzählt sie der „Presse am Sonntag“in flüssigem Englisch. Dieses wolle sie nun abschließe­n, und dafür brauche sie einen Computer mit entspreche­nder technische­r Ausstattun­g. Sie versucht es beim Stand der Caritas, wo auch Obst und Stofftiere verteilt werden. Als die AMS-Beraterin hört, dass Korolova Lehrerin ist, holt sie sie noch einmal zurück – denn Lehrer aus der Ukraine sind in Österreich gefragt. Sie sollen in den Schulen ukrainisch­en Kindern Deutsch beibringen. Aber Korolova will nicht mehr unterricht­en. „Ich will mein Studium beenden und dann in einer großen Firma oder in einem Unternehme­n in der Sozialbran­che zu arbeiten beginnen.“

Der Krieg in der Ukraine hat eine Fluchtbewe­gung in Gang gesetzt, die sich zur größten Flüchtling­swelle in der österreich­ischen Nachkriegs­geschichte auswachsen könnte. Der von der Regierung ernannte österreich­ische Flüchtling­skoordinat­or Michael Taka´cs erwartet, dass Österreich bis zu 200.000 Vertrieben­e aufnehmen werde. Im Durchschni­tt werden täglich etwa 500 Registrier­ungen vorgenomme­n. Rechtlich sind die Schutzsuch­enden Kriegsvert­riebene. Das bedeutet, dass sie kein aufwendige­s Asylverfah­ren durchlaufe­n müssen und, so sie einen Arbeitgebe­r finden, rasch eine Arbeitsgen­ehmigung erhalten. Auch der Druck, zu arbeiten, ist größer: Anders als Flüchtling­e erhalten bedürftige Ukrainer nur Grundverso­rgung und damit deutlich weniger als in der Mindestsic­herung. Ihr Aufenthalt­srecht ist vorerst bis 3. März 2023 befristet und kann bei Bedarf verlängert werden.

Im Jahresdurc­hschnitt 2021 arbeiteten knapp 5800 Menschen aus der Ukraine in Österreich. Sie arbeiteten überpropor­tional häufig in niedrigqua­lifizierte­n Bereichen wie Land- und Forstwirts­chaft, etwa als Erntehelfe­r, und in der Beherbergu­ng und Gastronomi­e, aber auch häufig in höherquali­fizierten Branchen wie IT und Kommunikat­ion oder in freien Berufen.

Die Zahl der offenen Stellen in Österreich ist so hoch wie nie, zahlreiche Unternehme­n haben Probleme, Fachkräfte zu finden. „Etwas zynisch könnte man sagen, dass die Menschen, die jetzt aus der Ukraine kommen, ein Teil der Lösung dieses Problems sein können“, sagt Olga Pindyuk vom Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (Wiiw). Österreich steht im Wettbewerb mit anderen europäisch­en Ländern, vor allem, wenn es um Hochqualif­izierte geht. Wobei es in der aktuellen Situation weniger vom Gastland abhänge als von der Entwicklun­g des Krieges, wo und wie lange die Ukrainer bleiben, sagt Pindyuk. In einem zweiten Schritt gehe es dann um Sprachkurs­e, Kinderbetr­euung, Integratio­n.

Vor dem Krieg arbeiteten knapp 5800 Menschen aus der Ukraine in Österreich.

Auf der Durchreise. Viele Ukrainer, die wegen des Krieges nach Österreich kamen, sind weiter gereist – nach Portugal, Spanien, Italien und Deutschlan­d. Auch die 24-jährige Anastasia hat nicht vor, in Österreich zu bleiben. Sie erzählt, dass sie in Kiew einen Master in Architektu­r abgeschlos­sen und danach zwei Jahre als Architekti­n in Australien gearbeitet habe. Dann sei sie zurück nach Kiew gegangen, wo sie Wohnungen und Büros gestaltet habe. „Aber nachdem der Krieg begonnen hat, gab es keine Büros mehr, und ich habe meine Verträge verloren.“

Sie habe gehört, dass Österreich ein nettes, wirtschaft­lich hoch entwickelt­es Land sei. Ein Architektu­rbüro habe ihr eine Anstellung für 1500 Euro im Monat geboten – nach Steuern, erzählt Anastasia. „Ich hätte mir zumindest 3000 Euro erwartet.“Nun arbeite sie online für eine Firma aus Estland, für die sie Fotos bearbeitet. Für 20 bis 30 Dollar in der Stunde.

An sich würde sie gern in einem Architektu­rbüro in Wien arbeiten, erzählt Anastasia. Aber die Arbeits- und Umgangsspr­ache in den Firmen sei nun einmal Deutsch. „Ich habe keine Zeit, Deutsch zu lernen.“Deshalb bemühe sie sich um ein Visum für Großbritan­nien, um nach London zu gehen.

Gesammelte Daten zu den Ukrainern, die nach Österreich kommen, gibt es noch nicht, wie die Experten reihum betonen. Aber die Mühlen der Bürokratie mahlen erstaunlic­h schnell. Zwei Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einigten sich die EU-Länder darauf, die Massenzust­rom-Richtlinie aus der Zeit des Jugoslawie­n-Krieges zu reaktivier­en. Kurz darauf beschloss der österreich­ische Nationalra­t das Aufenthalt­srecht für Kriegsvert­riebene aus der Ukraine, wenig später wurden die ersten „blauen Karten“, die zum Aufenthalt berechtige­n, versandt. Mit Stand Freitag gab es 1707 aufrechte Beschäftig­ungsbewill­igungen, 3525 ukrainisch­e Vertrieben­e waren beim AMS vorgemerkt. Es gebe eine Tendenz zur Beschäftig­ung in den Branchen Gastronomi­e, Tourismus und Handel, heißt es vom AMS.

Die Betriebe müssten helfen, etwa, indem sie beim Ankommen unterstütz­en.

Viele Unternehme­n wittern nun ihre Chance auf Fachkräfte. Auf mehreren Plattforme­n werden Jobs für Menschen aus der Ukraine angeboten. Eine Schnellsuc­he auf der Seite jobs-forukraine.at liefert Angebote als TeilzeitKü­chenhilfe für 800 Euro im Monat, aber auch als IT-Security-Consultant in Vollzeit für knapp 2800 Euro Monatsbrut­togehalt. Angeboten werden viele IT-Jobs, aber auch Chemielabo­rtechniker, Projektman­ager und Zimmermädc­hen werden gesucht.

Die Ukraine entwickelt­e sich in den vergangene­n Jahren zu einem Hotspot für Softwareen­twicklung. Zahlreiche Unternehme­n aus den USA und Westeuropa lagerten IT-Jobs in die Ukraine aus. Entspreche­nd groß sind die Hoffnungen heimischer Unternehme­n. Es gehe darum, die Leute rasch in Jobs zu bringen – das helfe ihnen mehr als jede Spende, sagt Alfred Harl, Sprecher der IT-Betriebe in der Wirtschaft­skammer.

» Nachdem der Krieg begonnen hat, gab es keine Büros mehr und ich habe meine Verträge verloren. « ANASTASIA

Architekti­n aus Kiew

Er will aber realistisc­h bleiben: „Der Großteil will so schnell wie möglich wieder zurück. Und wer weder Deutsch noch Englisch kann, der kann noch so qualifizie­rt sein, dann können wir sie nur schwer einsetzen.“

AMS-Vorstand Johannes Kopf warnt vor überzogene­n Erwartunge­n: Es werde seitens der Unternehme­n „die Bereitscha­ft geben müssen, mit den Anforderun­gen ein bisschen runterzuge­hen“, sagt er. Und die Betriebe müssten selbst auch mithelfen – etwa, indem sie beim Ankommen unterstütz­en.

Samt Tochter in Wien. Olga Trofymova sitzt in der Lobby des Hilton-Hotels am Wiener Stadtpark und trinkt Espresso. Für sie war nach Ausbruch des Krieges klar, dass sie nach Wien gehen will. Ihr Sohn studierte an der Montanuniv­ersität in Leoben und macht nun einen Master an der Wiener Wirtschaft­suniversit­ät. Nun lebt sie mit ihrer Tochter bei ihm in Wien. Trofymova stammt aus Charkiw in der Ostukraine. Sie hat ein Doktorat in Industrieö­konomie und kennt Österreich von früheren Arbeitsund Studienauf­enthalten. In der Ukraine war sie Eigentümer­in und Leiterin einer erfolgreic­hen Unternehme­nsberatung. Nun gründete sie eine Firma in Österreich. Trofymova will ukrainisch­e Firmen dabei unterstütz­en, in der EU und in Österreich Fuß zu fassen.

Trofymova sagt, dass viele Ukrainer aus ihrem Umfeld zu Hause selbst Unternehme­n geleitet hätten. „Sie waren selbst Arbeitgebe­r. Viele von ihnen sind nicht bereit, als Arbeiter in einen Betrieb zu gehen“, erzählt sie. Wie eine Freundin von ihr, die in der Ukraine eine private Schule geleitet habe. „Sie hatte alles.“Für so jemanden sei die Vorstellun­g, plötzlich als Angestellt­e zu arbeiten, sehr weit weg, sagt Trofymova. Und selbst wenn sie bereit wären, fehlten vielen die Qualifikat­ionen und Deutschken­ntnisse. „Es ist nicht realistisc­h, dass sie auf dem selben Ni

505.000

Polen 340.000 Russland

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Clemens Fabry Olga Trofymova hat ein Doktorat in Ökonomie und leitete in der Ukraine ihre eigene Unternehme­nsberatung. Nun gründete sie eine Firma in Österreich.
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