» In der Ukraine gab es einen echten Bildungsboom«
Die ukrainische Bevölkerung ist jung, der Akademikeranteil Wifo-Migrationsexperte Peter Huber gibt einen Überblick. hoch –
veau in den Arbeitsmarkt einsteigen, das sie aus der Ukraine gewohnt waren.“Leichter sei es für IT-Kräfte, sagt sie. Die seien es gewöhnt, in einem internationalen Umfeld und online zu arbeiten. „Aber die meisten von ihnen haben schon einen Job.“Und in diesem würden sie weiter arbeiten, auch nachdem sie die Ukraine verlassen hätten. Trofymova will in Wien bleiben, auch ihre Tochter soll in Österreich studieren. „Aber ich werde trotzdem weiter für die Ukraine arbeiten.“Auch jetzt arbeite sie rund um die Uhr für ihr Land. Sie unterstütze Firmen darin, trotz des Krieges weiterzumachen. „Die Menschen, die Wirtschaft, die Unternehmen müssen weiterarbeiten.“Sonst drohe eine echte humanitäre Krise.
Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 gab es in der Ukraine einen „merklichen Aufholprozess im Bildungsverhalten“, heißt es in einem Arbeitspapier des Wifo. Laut Eurostat haben mehr als die Hälfte der 30– bis 34-Jährigen eine tertiäre Ausbildung, sogar mehr als in Österreich (siehe Interview rechts). Anita Erhard vom AMS sagt, dass die Menschen, die ins Ankunftszentrum kämen, eine „realistische Einschätzung“der Situation hätten. „Ihnen ist bewusst, dass sie dequalifiziert zu arbeiten beginnen müssen.“
Männern im wehrfähigen Alter ist die Ausreise aus der Ukraine untersagt, daher kommen im Moment vor allem Frauen, viele mit Kindern. Damit sie arbeiten können, brauchen sie Betreuungsplätze, ob Kindergarten oder Schule. Wichtig sei auch die rasche Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen, sagen die Experten. In der Pflege wird dringend Personal gesucht – das Nostrifizierungsverfahren ist lange und aufwendig. „Es wäre ein guter Zeitpunkt, diese Anerkennungsverfahren zu überarbeiten und zu vereinfachen“, sagt Olga Pindyuk vom Wiiw. Als Buchhalter, Anwalt oder Architekt aus der Ukraine sei es wegen der aufwendigen Verfahren praktisch unmöglich, in Österreich zu praktizieren. Dazu kommt die sprachliche Barriere. In der Ukraine sei Englisch die erste Fremdsprache. Auch die 44-jährige Tatjana spricht nur brüchig Englisch, ihr Sohn, der in Wien studiert, dafür fließend mit amerikanischem Akzent. Sie habe ein Doktorat in Ökonomie, sagt Tatjana, während sie im Austria Center ein Datenblatt ausfüllt, und einen Master in Psychologie. Sie will in Wien bleiben und bei einer Sozialorganisation arbeiten. „Meine erste Priorität ist es jetzt, Deutsch zu lernen.“
Herr Huber, es wird erwartet, dass etwa 200.000 Menschen aus der Ukraine vor dem Krieg nach Österreich flüchten. Die Bevölkerung ist gut gebildet – werden die österreichischen Betriebe davon profitieren?
Peter Huber: Offizielle Daten gibt es noch nicht. Was wir haben, sind Zahlen zur Bevölkerungsstruktur in der Ukraine. Laut Eurostat haben 57 Prozent der 30- bis 34-Jährigen eine tertiäre Ausbildung. In Österreich sind es 42 Prozent. Die Ukraine liegt in den Pisa-Rankings auf Plätzen zwischen 40 und 50. Österreich liegt etwa zehn Plätze davor.
Der Akademikeranteil ist in der Ukraine also deutlich höher als in Österreich – kann man das wirklich für bare Münze nehmen?
Natürlich ist das eine Frage der Struktur des Bildungssystems. Aber was man jedenfalls sagen kann, ist, dass das Bildungssystem in der Ukraine nicht stark abfällt gegenüber Österreich. Studien zufolge gab es in den vergangenen Jahren einen echten Bildungsboom in der Ukraine. Was wir auch wissen, ist, dass die Bevölkerung in der Ukraine relativ jung ist. 17 Prozent sind bis 14 Jahre alt, 30 Prozent zwischen 25 und 44. In Österreich sind es 14 Prozent beziehungsweise 26 Prozent. In der Arbeitsmigration gibt es immer Selektionsprozesse. Aber Flucht trifft alle. Daher erwarten wir, dass die Bevölkerungsstruktur eine gute Prognose ist für die Struktur der Flüchtlinge.
Wenn so viele Gutausgebildete kommen, steht Österreich in einem Wettbewerb mit anderen Ländern um die besten Köpfe. Was sind die Pull-Faktoren für Hochqualifizierte?
Die Pull-Faktoren sind bei Flucht zunächst nicht so maßgeblich. Viele versuchen, nahe der Heimat zu bleiben, weil sie rasch zurück wollen – man sieht das am großen Andrang auf Polen. Wenn der Konflikt länger dauert, werden sich die Menschen schon überlegen, ob sie woanders bessere Optionen haben. Für Hochgebildete ist es wichtig, dass ihre Qualifikationen rasch anerkannt werden. Und für jene, die selbstständig arbeiten wollen, der Zugang zur Selbstständigkeit. Von den Ukrainern, die schon vor dem Krieg in Österreich waren, arbeiten 14 Prozent in der Land- und Forstwirtschaft, hauptsächlich als Saisonniers. Sechs Prozent sind im Informations- und Kommunikationsbereich tätig.
Peter Huber
ist Ökonom am österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo). Er forscht zu den Themen Migration, Arbeitsmarkt und Regionalentwicklung.
Huber unterrichtete
an der Wirtschaftsuniversität Wien und an den Universitäten Innsbruck und Salzburg und studierte, lehrte und forschte unter anderem in Berlin und Almaty.
Die IT-Branche in Österreich hofft auf Fachkräfte, die Ukraine war bis zum Krieg ein Zentrum für Softwareentwicklung. Ist die Hoffnung der Firmen berechtigt?
Das ist die Fantasie, aber es gibt noch viele Wenns und Abers. Vom Gefühl her würde ich sagen, es kann eine Linderung, aber keine Lösung der Probleme sein. In dem Bereich gibt es schon seit Jahren Arbeitskräfteknappheiten. Die Unternehmen hätten diese Fachkräfte am liebsten schon gestern gehabt. Und es ist die Frage, wie schnell jemand, der vor zwei Monaten noch ein ganz normales Leben in der Ukraine hatte, jetzt sofort bereit für den österreichischen Arbeitsmarkt ist. Das sind Prozesse, die Zeit brauchen, und eher nicht Wochen, sondern Monate.
Welche Schlüsse kann man aus früheren Flüchtlingswellen ziehen?
Was wir wissen, ist, dass die Flüchtlinge, die ab 2005 nach Österreich kamen, in den ersten zwei, drei Jahren nach der Anerkennung sehr schnell aufholten. Nach zwei bis drei Jahren sehen wir eine Beschäftigungsquote von 50 Prozent. Generell werden in den ersten Jahren die größten Fortschritte gemacht bei der Arbeitsmarktintegration. Eine Gruppe, in der die Erwerbsquoten notorisch niedrig sind, sind Frauen aus muslimischen Ländern. Die holen nicht so schnell auf. Wir führen das auf andere Familientraditionen im arabischen Raum zurück. In diesen Ländern ist die Erwerbsquote von Frauen sehr niedrig. In der Ukraine ist die Erwerbsquote der Frauen relativ hoch.
Welchen Unterschied macht es, dass die Ukrainer rechtlich gesehen keine Flüchtlinge sind, sondern Vertriebene?
Sie haben ein befristetes Aufenthaltsrecht, aber das ist ein rein rechtlicher Unterschied. Der sofortige Arbeitsmarktzugang ist natürlich schon ein Vorteil. Aber es wird zunächst vor allem um die Sprache gehen. Gerade in hochqualifizierten Berufen ist es eine Grundvoraussetzung, dass man die Sprache beherrscht. Sonst muss man unter seiner Qualifikation zu arbeiten beginnen. Natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass sie überhaupt bleiben wollen. Wer plant, nur ein Jahr zu bleiben, wird nicht intensiv in die Sprache investieren, sondern eher sagen, er taucht diese Zeit durch.
Wichtig ist die rasche Anerkennung von Bildungsund Berufsabschlüssen.