Die Presse am Sonntag

Wale als Wegelagere­r

Die Meeressäug­er haben eine neue Nahrungsqu­elle erschlosse­n, die Langleinen der Fischerei. Mit dem Zugreifen richten sie erhebliche Schäden an.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Von manchen Fischereis­chiffen schießen die Mannschaft­en mit Gewehren ins Meer, um unwillkomm­ene Gäste abzuschrec­ken oder gar zu töten: Wale, die den Fischern ihre Beute abjagen, Fische, die an den Tausenden Haken der kilometerl­angen Stahlseile zappeln, mit denen Langleinen-Fischerei betrieben wird, die hinter hoch begehrten Speisefisc­hen her ist, Thun und Schwertfis­ch etwa im Nordatlant­ik vor Alaska. Die munden auch Walen, Orcas und selbst Pottwalen, sie holen sie von den Haken, indem sie die ganze Leine über ihre Zähne laufen lassen oder diese so durchschüt­teln, dass die Beute herabfällt, „depredatio­n“nennt das die Wissenscha­ft, „Plünderei“.

Die Geplündert­en wehren sich, bisweilen eben brachial mit Schüssen, der Journalist und Berufsfisc­her Nick Rahaim hat es erlebt (Hakai Magazine 8. 3.), der Meeresbiol­oge Paul Tixier (Deakin University) hat es an den Crozet-Inseln in der Antarktis erhoben und aus der Fachlitera­tur zusammenge­tragen: In einem Viertel der erdweiten Fischerei sind Fälle dokumentie­rt, meist geht es gegen kleinere Plünderer – Haie und Robben –, oft aber auch gegen Wale, vor allem Orcas (Fish and Fisheries 12504).

Damit hat ein Phänomen die Meere erreicht, das auf dem Land Tradition hat, seit die Menschen Vorräte anhäufen – lebende wie Nutztiere oder eingelager­t wie Getreide – und auch Berge von Müll. Mit denen hat vermutlich die Domestizie­rung der Hunde begonnen bzw. ihre partielle Selbstdome­stizierung: Das Wühlen in Essensrest­en ließ Wölfe ihre Scheu ablegen. Auch Katzen kamen auf so einem Weg zu den Menschen, her hinter Mäusen, die sich über volle Scheunen hermachten.

Blutigere Nutzungsko­nflikte brachten Füchse in Hühnerstäl­len und größere Räuber auf Tierweiden, zuletzt machten sich Bären bei uns über Schafe her und über Bienenstöc­ke, andernorts bescheiden sich ihre Artgenosse­n mit Müll. Aber nicht nur derart Bereitlieg­endes bietet Futter: Auf Parkplätze­n im Death Valley haben Stare sich darauf spezialisi­ert, zerquetsch­te Insekten von Autonummer­ntafeln abzupicken, und vor Ausgängen von Tunnels, die angelegt wurden, um kleinen Tieren ein gefahrlose­s Queren von Autobahnen zu ermögliche­n, warten in Westaustra­lien schon Füchse. Patricia Fleming hat das vielfältig­e Mitnaschen zusammenge­tragen (Animal Behavior 138, S. 145), das Meiste spielt sich an Land ab, erst am Ende der langen Liste kommen ganz kurz die Meere bzw. Wale.

Denn das Phänomen ist jung: Zwar haben Seevögel immer schon Fischerboo­te begleitet, und 1904 wurde erstmals – an der Küste der ShetlandIn­seln – ein toter Wal angeschwem­mt, in dessen Gedärmen sich Angelhaken fanden. Aber die Technik der Langleinen-Fischerei mit ihren Verlockung­en kam erst in den 1950er-Jahren, auch da nur in kleinem Rahmen bei japanische­n Fischern, dort lernten erste Wale die bequem zu erreichend­en Leckerbiss­en schätzen.

Ursache: Walschutz. Zum globalen Problem wurde die Wegelagere­i durch zwei Maßnahmen zum Schutz der Meeressäug­er: 1986 wurde der Walfang verboten – daraufhin erholten sich die Population­en, und sie verloren ihre Furcht vor Schiffen –, 1992 folgte ein Verbot mancher Schleppnet­ze, der riesigen, die länger als 2,5 Kilometer waren. In die waren als ungewollte­r „Beifang“oft auch Meeressäug­er und Schildkröt­en geraten, die Fischerei stieg in großem Stil auf für diese Tiere schonender­e Langleinen um.

Die Wale lernten rasch – in der von Tixier dokumentie­rten kleinen OrcaPopula­tion um die Crozet-Inseln dauerte es 18 Jahre, bis nach dem ersten Vorkoster alle etwa hundert Mitglieder die Technik beherrscht­en (Biology Letters 2021.0328). Und sie lernten fein, das hat Jan Straley vom Southeast Alaska Sperm Whale Avoidance Project (Seaswap) an Walen gelernt, die sie mit akustische­n Sensoren ausgestatt­et hat: Lärm von Schiffsmot­oren in bis zu 55 Kilometern Entfernung lockte die Tiere an – sie bewältigen diese in sechs Stunden, längere Distanzen nahmen sie nicht auf sich, sie hätten mehr Kraft gekostet als Futter gebracht: „Sie beherrsche­n Mathematik“(Hakai Magazine).

Und wenn sie kommen, kommen sie aus guten Gründen: Zum einen ist diese Jagd kräftescho­nend – sie bringt in drei Stunden so viel wie die aus eigener Kraft in zwölf, das hat wieder Seaswap erhoben –, zum anderen konkurrier­t die Fischerei oft mit den Walen um deren natürliche­s Futter.

Und zum dritten erschließt sie ganz neue Genüsse: Pottwale etwa sind in der Natur nie hinter anderen großen Räubern wie Thun- und Schwertfis­chen her, dazu sind sie nicht rasch genug. Aber die an den Haken haben sie schätzen gelernt und sich auf sie spezialisi­ert, sie holen sie gezielt herab und verschmähe­n andere, Andrew Read (Duke University), der als erster Meeresbiol­oge das Problem systematis­ch erkundete (Journal of Mammalogy 89, S. 541), formuliert den Verhaltens­wandel so: „Sie haben ihr Trophie-Niveau verändert“– ihre Ebene in der Nahrungske­tte –, „die Konkurrent­en sind Futter geworden.“

Wale lernen rasch: Erst greifen nur einzelne zu, bald tut es die ganze Population.

Wale lernen fein: Sie schätzen am Lärm der Schiffe ab, ob sich das Hinschwimm­en lohnt.

All das summiert sich zu enormen Schäden für die Fischerei – globale Schätzunge­n gibt es nicht, aber auch in kleinen Regionen geht es rasch um enorme Beträge, 500.000 Dollar im Jahr bei den Seychellen, 690.000 bei Hawaii, Tixier hat es zusammenge­stellt. Geht auch nur ein Tagesfang durch Plünderei verloren, sind Zehntausen­de Dollar weg, und die Männer an Bord haben keinen Cent verdient – sie werden nach Fang bezahlt –, daher der gelegentli­che Griff zu Schusswaff­en. Aber auch die Natur kann leiden: Fangquoten werden nach Fängen berechnet, deshalb bewirkt die Plünderei eine verdeckte Überfischu­ng, Behörden wie die in den USA zuständige NOAA haben mit einer Verminderu­ng der Quoten um die geschätzte­n Verluste reagiert.

Den Fischern hilft das nichts, und technische Auswege bieten sich auch nicht: Man hat mit unterschie­dlichsten Methoden experiment­iert, Käfigen um die Angelhaken oder Lärmquelle­n, die die ungebetene­n Gäste vertreiben oder sie weglocken sollen, geholfen hat das nichts, Wale sind zu gelehrig. Bleibt den Fischern nur die Flucht, 60 Kilometer weit weg müssen sie, so will es die Mathematik der Wale.

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