Wale als Wegelagerer
Die Meeressäuger haben eine neue Nahrungsquelle erschlossen, die Langleinen der Fischerei. Mit dem Zugreifen richten sie erhebliche Schäden an.
Von manchen Fischereischiffen schießen die Mannschaften mit Gewehren ins Meer, um unwillkommene Gäste abzuschrecken oder gar zu töten: Wale, die den Fischern ihre Beute abjagen, Fische, die an den Tausenden Haken der kilometerlangen Stahlseile zappeln, mit denen Langleinen-Fischerei betrieben wird, die hinter hoch begehrten Speisefischen her ist, Thun und Schwertfisch etwa im Nordatlantik vor Alaska. Die munden auch Walen, Orcas und selbst Pottwalen, sie holen sie von den Haken, indem sie die ganze Leine über ihre Zähne laufen lassen oder diese so durchschütteln, dass die Beute herabfällt, „depredation“nennt das die Wissenschaft, „Plünderei“.
Die Geplünderten wehren sich, bisweilen eben brachial mit Schüssen, der Journalist und Berufsfischer Nick Rahaim hat es erlebt (Hakai Magazine 8. 3.), der Meeresbiologe Paul Tixier (Deakin University) hat es an den Crozet-Inseln in der Antarktis erhoben und aus der Fachliteratur zusammengetragen: In einem Viertel der erdweiten Fischerei sind Fälle dokumentiert, meist geht es gegen kleinere Plünderer – Haie und Robben –, oft aber auch gegen Wale, vor allem Orcas (Fish and Fisheries 12504).
Damit hat ein Phänomen die Meere erreicht, das auf dem Land Tradition hat, seit die Menschen Vorräte anhäufen – lebende wie Nutztiere oder eingelagert wie Getreide – und auch Berge von Müll. Mit denen hat vermutlich die Domestizierung der Hunde begonnen bzw. ihre partielle Selbstdomestizierung: Das Wühlen in Essensresten ließ Wölfe ihre Scheu ablegen. Auch Katzen kamen auf so einem Weg zu den Menschen, her hinter Mäusen, die sich über volle Scheunen hermachten.
Blutigere Nutzungskonflikte brachten Füchse in Hühnerställen und größere Räuber auf Tierweiden, zuletzt machten sich Bären bei uns über Schafe her und über Bienenstöcke, andernorts bescheiden sich ihre Artgenossen mit Müll. Aber nicht nur derart Bereitliegendes bietet Futter: Auf Parkplätzen im Death Valley haben Stare sich darauf spezialisiert, zerquetschte Insekten von Autonummerntafeln abzupicken, und vor Ausgängen von Tunnels, die angelegt wurden, um kleinen Tieren ein gefahrloses Queren von Autobahnen zu ermöglichen, warten in Westaustralien schon Füchse. Patricia Fleming hat das vielfältige Mitnaschen zusammengetragen (Animal Behavior 138, S. 145), das Meiste spielt sich an Land ab, erst am Ende der langen Liste kommen ganz kurz die Meere bzw. Wale.
Denn das Phänomen ist jung: Zwar haben Seevögel immer schon Fischerboote begleitet, und 1904 wurde erstmals – an der Küste der ShetlandInseln – ein toter Wal angeschwemmt, in dessen Gedärmen sich Angelhaken fanden. Aber die Technik der Langleinen-Fischerei mit ihren Verlockungen kam erst in den 1950er-Jahren, auch da nur in kleinem Rahmen bei japanischen Fischern, dort lernten erste Wale die bequem zu erreichenden Leckerbissen schätzen.
Ursache: Walschutz. Zum globalen Problem wurde die Wegelagerei durch zwei Maßnahmen zum Schutz der Meeressäuger: 1986 wurde der Walfang verboten – daraufhin erholten sich die Populationen, und sie verloren ihre Furcht vor Schiffen –, 1992 folgte ein Verbot mancher Schleppnetze, der riesigen, die länger als 2,5 Kilometer waren. In die waren als ungewollter „Beifang“oft auch Meeressäuger und Schildkröten geraten, die Fischerei stieg in großem Stil auf für diese Tiere schonendere Langleinen um.
Die Wale lernten rasch – in der von Tixier dokumentierten kleinen OrcaPopulation um die Crozet-Inseln dauerte es 18 Jahre, bis nach dem ersten Vorkoster alle etwa hundert Mitglieder die Technik beherrschten (Biology Letters 2021.0328). Und sie lernten fein, das hat Jan Straley vom Southeast Alaska Sperm Whale Avoidance Project (Seaswap) an Walen gelernt, die sie mit akustischen Sensoren ausgestattet hat: Lärm von Schiffsmotoren in bis zu 55 Kilometern Entfernung lockte die Tiere an – sie bewältigen diese in sechs Stunden, längere Distanzen nahmen sie nicht auf sich, sie hätten mehr Kraft gekostet als Futter gebracht: „Sie beherrschen Mathematik“(Hakai Magazine).
Und wenn sie kommen, kommen sie aus guten Gründen: Zum einen ist diese Jagd kräfteschonend – sie bringt in drei Stunden so viel wie die aus eigener Kraft in zwölf, das hat wieder Seaswap erhoben –, zum anderen konkurriert die Fischerei oft mit den Walen um deren natürliches Futter.
Und zum dritten erschließt sie ganz neue Genüsse: Pottwale etwa sind in der Natur nie hinter anderen großen Räubern wie Thun- und Schwertfischen her, dazu sind sie nicht rasch genug. Aber die an den Haken haben sie schätzen gelernt und sich auf sie spezialisiert, sie holen sie gezielt herab und verschmähen andere, Andrew Read (Duke University), der als erster Meeresbiologe das Problem systematisch erkundete (Journal of Mammalogy 89, S. 541), formuliert den Verhaltenswandel so: „Sie haben ihr Trophie-Niveau verändert“– ihre Ebene in der Nahrungskette –, „die Konkurrenten sind Futter geworden.“
Wale lernen rasch: Erst greifen nur einzelne zu, bald tut es die ganze Population.
Wale lernen fein: Sie schätzen am Lärm der Schiffe ab, ob sich das Hinschwimmen lohnt.
All das summiert sich zu enormen Schäden für die Fischerei – globale Schätzungen gibt es nicht, aber auch in kleinen Regionen geht es rasch um enorme Beträge, 500.000 Dollar im Jahr bei den Seychellen, 690.000 bei Hawaii, Tixier hat es zusammengestellt. Geht auch nur ein Tagesfang durch Plünderei verloren, sind Zehntausende Dollar weg, und die Männer an Bord haben keinen Cent verdient – sie werden nach Fang bezahlt –, daher der gelegentliche Griff zu Schusswaffen. Aber auch die Natur kann leiden: Fangquoten werden nach Fängen berechnet, deshalb bewirkt die Plünderei eine verdeckte Überfischung, Behörden wie die in den USA zuständige NOAA haben mit einer Verminderung der Quoten um die geschätzten Verluste reagiert.
Den Fischern hilft das nichts, und technische Auswege bieten sich auch nicht: Man hat mit unterschiedlichsten Methoden experimentiert, Käfigen um die Angelhaken oder Lärmquellen, die die ungebetenen Gäste vertreiben oder sie weglocken sollen, geholfen hat das nichts, Wale sind zu gelehrig. Bleibt den Fischern nur die Flucht, 60 Kilometer weit weg müssen sie, so will es die Mathematik der Wale.