Die Presse am Sonntag

Ein Rabbi reist durch Anatolien

Mendy Chitrik fährt durchs Land, inspiziert Hersteller koscherer Speisen – und sucht nach historisch­en Spuren jüdischen Lebens.

- VON SUSANNE GÜSTEN (ISTANBUL)

Ein Schofarhor­n ertönt in der Synagoge der türkischen Provinzsta­dt Antakya, und Azur legt die Hand aufs Herz. Ergriffen lauscht der weißhaarig­e Jude dem liturgisch­en Instrument, das er schon lang nicht mehr gehört hat – bis es nun ein reisender Rabbi mitgebrach­t hat. Seit zweieinhal­btausend Jahren leben Juden in dieser Stadt, die einst als Antiochia bekannt war, doch heute zählt die Gemeinde nur noch sieben Frauen und sieben Männer – zu wenige, um das traditione­lle Quorum für einen Gottesdien­st zu erfüllen.

Die Juden von Antakya freuen sich über den Besuch aus dem fernen Istanbul. Und sie freuen sich noch mehr, als Rabbi Mendy Chitrik einige Hühner schächtet: Mangels eines befugten Schächters müssen sie sich beim Sabbat sonst mit Fisch begnügen. Überschwän­glich verabschie­den sie den Rabbi, als er weiterfähr­t. Er ist auf Entdeckung­sreise durch die Türkei, auf den Spuren des Judentums in Anatolien.

Der Lebensmitt­elinspekto­r. Chitrik überwacht für das türkische Oberrabbin­at die Zertifizie­rung in vielen der rund 400 Fabriken in der Türkei, die koschere Lebensmitt­el herstellen; so kommt er viel herum. „Wenn ich irgendwo eine koschere Fabrik inspiziere, suche ich dort nach historisch­en Spuren der Juden“, erzählt der Rabbi im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Hauptamtli­ch ist er Rabbi der aschkenasi­schen Gemeinde Istanbuls – einer Minderheit unter den rund 10.000 sephardisc­hen Juden der Bosporus-Metropole. Zur Vielfalt jüdischen Lebens in der Türkei zählten einst auch Mizrachim (arabische Juden), aramäischs­prachige Juden aus den Kurdengebi­eten der Türkei sowie Romanioten: griechisch­sprachige Juden, die seit altrömisch­en Zeiten in Anatolien leben. Heute sind diese Gruppen großteils in der Mehrheit der Sepharden aufgegange­n, die im 15. Jahrhunder­t vor der spanischen Inquisitio­n ins Osmanische Reich flohen. Sie leben überwiegen­d in Istanbul, doch auch anderswo in Anatolien gibt es noch jüdische Gemeinden.

Im westtürkis­chen Bursa fand Rabbi Chitrik eine Gemeinde von 60 Juden mit zwei Synagogen, gepflegtem Friedhof und einem Gemeindevo­rsteher, der in einer Mischung aus Türkisch und Ladino sprach – der alten Sprache der Juden im Mittelmeer­raum. Täglich setze er sich für die jüdischen Traditione­n ein, berichtete der Gemeindevo­rstand, Leon Elnekave, damit Gemeinde und Glaube erhalten bleiben. Ladino ist auch in Izmir noch lebendig, der westtürkis­chen Küstenstad­t, die einst Smyrna hieß.

Zweieinhal­btausend Juden leben heute in Izmir; im 19. Jahrhunder­t sollen es 50.000 gewesen sein. Um ihr Erbe zu wahren, lässt die Stadt derzeit zusammen mit der jüdischen Gemeinde neun Synagogen aus dem 17. Jahrhunder­t restaurier­en. Projektlei­ter Nesim Bencoya führte den Rabbi durch das Kulturproj­ekt, das von der EU gefördert wird.

Synagoge für 2000 Menschen. Noch größer als die jüdische Gemeinde Smyrnas war in der Antike jene von Sardis, dessen Ruinen knapp 100 Kilometer von Izmir entfernt liegen. Die Reste einer eineinhalb Jahrtausen­de alten Synagoge konnte Chitrik dort sehen. „Eine riesige Synagoge für 2000 Menschen“, sagt er. „Das zeigt, wie groß die jüdische Gemeinde dort vor 1500 Jahren war.“

Auch das nahe Tire war einst Zentrum jüdischen Lebens, doch davon ist wenig übrig. Auf einem Grundstück in dem Städtchen fand Chitrik alte Grabsteine und konnte so den jüdischen Friedhof orten. Ein Krankenhau­s war dort gebaut und inzwischen abgerissen worden, fand er heraus. „Ich bin in der Stadt herumgelau­fen und habe die Nachbarn gefragt: ,War hier der jüdische Friedhof?‘“, erzählt Chitrik. „Ich hatte den Friedhof ja gefunden, aber ich hab trotzdem danach gefragt, damit die Leute wissen, dass Juden kommen, um ihren Friedhof zu besuchen – denn wenn niemand käme, würde vielleicht wieder etwas darauf gebaut, dann gingen auch die letzten Grabsteine verloren.“Das tue er überall, wo er hinkomme, sagt er. „Indem man eine Stätte besucht, macht man sie den örtlichen Behörden und Bewohnern bewusst und erweckt sie wieder zum Leben.“

Er reist kreuz und quer durch Anatolien. Im Badeort C¸ es¸me an der Ägäis tanzte er bei einer jüdischen Hochzeit. „Wir sind ein Volk der Geschichte, wir erinnern uns immer an unsere Vergangenh­eit“, sagte er bei der Trauung am Strand, bevor das Paar traditions­gemäß ein Glas zerbrach. „Wir zerbrechen bei den freudigste­n Anlässen ein Glas, um an Jerusalem zu erinnern und an unsere schwersten Augenblick­e.“

In Ankara fand er ein malerische­s Judenviert­el vor, aber nur 30 oder 40 Juden, viele davon ausländisc­he Diplomaten; eine Synagoge mit regelmäßig­em Gottesdien­st gibt es nicht mehr. Im südtürkisc­hen Adana entdeckte er eine funktionie­rende Synagoge, obwohl dort keine zehn Juden mehr leben und das Quorum für den Gottesdien­st fehlt. Im südostanat­olischen Diyarbakir, großteils von Kurden bewohnt, traf er den letzten Juden der Stadt.

„Ich lerne ständig dazu über die jüdische Geschichte dieses Landes“, sagt Chitrik, der in Israel geboren ist und seit über 20 Jahren in Istanbul lebt. „Ich glaube, dass ein Bewusstsei­n für Geschichte auch die Gegenwart und Zukunft prägen kann.“Deshalb sucht er auch die Begegnung mit anderen Religionen, die sich nach dem Judentum in Anatolien verwurzelt­en. Im westtürkis­chen Manisa traf er auf einen geschichts­begeistert­en Imam, der mit ihm auf Spurensuch­e ging; gemeinsam erkundeten die Gottesmänn­er die Geistesges­chichte, Kulturdenk­mäler und Friedhöfe der Stadt. Im südostanat­olischen Adiyaman besuchte er den syrisch-orthodoxen Metropolit­en und plauderte einen Abend lang bei Tee und Obst mit ihm über Gott und die Welt und die gemeinsame Sorge um ihre aussterben­den Gemeinden; teilweise konnten sich die beiden Geistliche­n dabei auf Aramäisch unterhalte­n.

» Wir sind ein Volk der Geschichte, wir erinnern uns immer an unsere Vergangenh­eit. « RABBI MENDY CHITRIK

Eine gelungene Restaurier­ung. Am tiefsten berührt fühlte sich der Rabbi von der Kleinstadt Kilis¸ an der Grenze zu Syrien. „Eine wunderschö­ne Erfahrung, der Empfang war so freundlich.“Die Stadt hat keine jüdische Gemeinde mehr, doch die türkische Regierung hat die Synagoge von Kilis¸ kürzlich restaurier­t. „Sie haben alte Fotos gefunden und die Ruine damit originalge­treu wiederaufg­ebaut“, erzählt Chitrik. Die Synagoge ist jetzt für Besucher geöffnet, die Anwohner sind stolz darauf. „Als wir dort waren, kamen Nachbarn und haben uns eingeladen, bewirtet und stundenlan­g von früher erzählt und von ihren Erinnerung­en an ihre jüdischen Nachbarn, und wie sie oder ihre Eltern ihnen am Sabbat immer das Licht anmachten oder den Ofen anfeuerten.“

Seit 60 oder 70 Jahren leben keine Juden mehr in Kilis¸. Vom Staat damals mit einer diskrimini­erenden Sondersteu­er ausgebeute­t und von einer repressive­n Minderheit­enpolitik ausgegrenz­t, zog fast die Hälfte der türkischen Juden nach Israel, als es 1948 gegründet wurde. Ausschreit­ungen gegen nicht muslimisch­e Minderheit­en in den 1950ern und Anschläge auf Istanbuler Synagogen 1986 und 2003 bewogen noch mehr Juden zur Abwanderun­g. Doch das Judentum ist noch immer die älteste lebende Religion in der Türkei, wie Rabbi Chitrik betont. Mit seinen Reisen zu entlegenen Gemeinden will er dazu beitragen, dass das so bleibt.

Der Rabbi auf gemeinsame­r Spurensuch­e mit dem geschichts­begeistert­en Imam.

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