Ein Rabbi reist durch Anatolien
Mendy Chitrik fährt durchs Land, inspiziert Hersteller koscherer Speisen – und sucht nach historischen Spuren jüdischen Lebens.
Ein Schofarhorn ertönt in der Synagoge der türkischen Provinzstadt Antakya, und Azur legt die Hand aufs Herz. Ergriffen lauscht der weißhaarige Jude dem liturgischen Instrument, das er schon lang nicht mehr gehört hat – bis es nun ein reisender Rabbi mitgebracht hat. Seit zweieinhalbtausend Jahren leben Juden in dieser Stadt, die einst als Antiochia bekannt war, doch heute zählt die Gemeinde nur noch sieben Frauen und sieben Männer – zu wenige, um das traditionelle Quorum für einen Gottesdienst zu erfüllen.
Die Juden von Antakya freuen sich über den Besuch aus dem fernen Istanbul. Und sie freuen sich noch mehr, als Rabbi Mendy Chitrik einige Hühner schächtet: Mangels eines befugten Schächters müssen sie sich beim Sabbat sonst mit Fisch begnügen. Überschwänglich verabschieden sie den Rabbi, als er weiterfährt. Er ist auf Entdeckungsreise durch die Türkei, auf den Spuren des Judentums in Anatolien.
Der Lebensmittelinspektor. Chitrik überwacht für das türkische Oberrabbinat die Zertifizierung in vielen der rund 400 Fabriken in der Türkei, die koschere Lebensmittel herstellen; so kommt er viel herum. „Wenn ich irgendwo eine koschere Fabrik inspiziere, suche ich dort nach historischen Spuren der Juden“, erzählt der Rabbi im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Hauptamtlich ist er Rabbi der aschkenasischen Gemeinde Istanbuls – einer Minderheit unter den rund 10.000 sephardischen Juden der Bosporus-Metropole. Zur Vielfalt jüdischen Lebens in der Türkei zählten einst auch Mizrachim (arabische Juden), aramäischsprachige Juden aus den Kurdengebieten der Türkei sowie Romanioten: griechischsprachige Juden, die seit altrömischen Zeiten in Anatolien leben. Heute sind diese Gruppen großteils in der Mehrheit der Sepharden aufgegangen, die im 15. Jahrhundert vor der spanischen Inquisition ins Osmanische Reich flohen. Sie leben überwiegend in Istanbul, doch auch anderswo in Anatolien gibt es noch jüdische Gemeinden.
Im westtürkischen Bursa fand Rabbi Chitrik eine Gemeinde von 60 Juden mit zwei Synagogen, gepflegtem Friedhof und einem Gemeindevorsteher, der in einer Mischung aus Türkisch und Ladino sprach – der alten Sprache der Juden im Mittelmeerraum. Täglich setze er sich für die jüdischen Traditionen ein, berichtete der Gemeindevorstand, Leon Elnekave, damit Gemeinde und Glaube erhalten bleiben. Ladino ist auch in Izmir noch lebendig, der westtürkischen Küstenstadt, die einst Smyrna hieß.
Zweieinhalbtausend Juden leben heute in Izmir; im 19. Jahrhundert sollen es 50.000 gewesen sein. Um ihr Erbe zu wahren, lässt die Stadt derzeit zusammen mit der jüdischen Gemeinde neun Synagogen aus dem 17. Jahrhundert restaurieren. Projektleiter Nesim Bencoya führte den Rabbi durch das Kulturprojekt, das von der EU gefördert wird.
Synagoge für 2000 Menschen. Noch größer als die jüdische Gemeinde Smyrnas war in der Antike jene von Sardis, dessen Ruinen knapp 100 Kilometer von Izmir entfernt liegen. Die Reste einer eineinhalb Jahrtausende alten Synagoge konnte Chitrik dort sehen. „Eine riesige Synagoge für 2000 Menschen“, sagt er. „Das zeigt, wie groß die jüdische Gemeinde dort vor 1500 Jahren war.“
Auch das nahe Tire war einst Zentrum jüdischen Lebens, doch davon ist wenig übrig. Auf einem Grundstück in dem Städtchen fand Chitrik alte Grabsteine und konnte so den jüdischen Friedhof orten. Ein Krankenhaus war dort gebaut und inzwischen abgerissen worden, fand er heraus. „Ich bin in der Stadt herumgelaufen und habe die Nachbarn gefragt: ,War hier der jüdische Friedhof?‘“, erzählt Chitrik. „Ich hatte den Friedhof ja gefunden, aber ich hab trotzdem danach gefragt, damit die Leute wissen, dass Juden kommen, um ihren Friedhof zu besuchen – denn wenn niemand käme, würde vielleicht wieder etwas darauf gebaut, dann gingen auch die letzten Grabsteine verloren.“Das tue er überall, wo er hinkomme, sagt er. „Indem man eine Stätte besucht, macht man sie den örtlichen Behörden und Bewohnern bewusst und erweckt sie wieder zum Leben.“
Er reist kreuz und quer durch Anatolien. Im Badeort C¸ es¸me an der Ägäis tanzte er bei einer jüdischen Hochzeit. „Wir sind ein Volk der Geschichte, wir erinnern uns immer an unsere Vergangenheit“, sagte er bei der Trauung am Strand, bevor das Paar traditionsgemäß ein Glas zerbrach. „Wir zerbrechen bei den freudigsten Anlässen ein Glas, um an Jerusalem zu erinnern und an unsere schwersten Augenblicke.“
In Ankara fand er ein malerisches Judenviertel vor, aber nur 30 oder 40 Juden, viele davon ausländische Diplomaten; eine Synagoge mit regelmäßigem Gottesdienst gibt es nicht mehr. Im südtürkischen Adana entdeckte er eine funktionierende Synagoge, obwohl dort keine zehn Juden mehr leben und das Quorum für den Gottesdienst fehlt. Im südostanatolischen Diyarbakir, großteils von Kurden bewohnt, traf er den letzten Juden der Stadt.
„Ich lerne ständig dazu über die jüdische Geschichte dieses Landes“, sagt Chitrik, der in Israel geboren ist und seit über 20 Jahren in Istanbul lebt. „Ich glaube, dass ein Bewusstsein für Geschichte auch die Gegenwart und Zukunft prägen kann.“Deshalb sucht er auch die Begegnung mit anderen Religionen, die sich nach dem Judentum in Anatolien verwurzelten. Im westtürkischen Manisa traf er auf einen geschichtsbegeisterten Imam, der mit ihm auf Spurensuche ging; gemeinsam erkundeten die Gottesmänner die Geistesgeschichte, Kulturdenkmäler und Friedhöfe der Stadt. Im südostanatolischen Adiyaman besuchte er den syrisch-orthodoxen Metropoliten und plauderte einen Abend lang bei Tee und Obst mit ihm über Gott und die Welt und die gemeinsame Sorge um ihre aussterbenden Gemeinden; teilweise konnten sich die beiden Geistlichen dabei auf Aramäisch unterhalten.
» Wir sind ein Volk der Geschichte, wir erinnern uns immer an unsere Vergangenheit. « RABBI MENDY CHITRIK
Eine gelungene Restaurierung. Am tiefsten berührt fühlte sich der Rabbi von der Kleinstadt Kilis¸ an der Grenze zu Syrien. „Eine wunderschöne Erfahrung, der Empfang war so freundlich.“Die Stadt hat keine jüdische Gemeinde mehr, doch die türkische Regierung hat die Synagoge von Kilis¸ kürzlich restauriert. „Sie haben alte Fotos gefunden und die Ruine damit originalgetreu wiederaufgebaut“, erzählt Chitrik. Die Synagoge ist jetzt für Besucher geöffnet, die Anwohner sind stolz darauf. „Als wir dort waren, kamen Nachbarn und haben uns eingeladen, bewirtet und stundenlang von früher erzählt und von ihren Erinnerungen an ihre jüdischen Nachbarn, und wie sie oder ihre Eltern ihnen am Sabbat immer das Licht anmachten oder den Ofen anfeuerten.“
Seit 60 oder 70 Jahren leben keine Juden mehr in Kilis¸. Vom Staat damals mit einer diskriminierenden Sondersteuer ausgebeutet und von einer repressiven Minderheitenpolitik ausgegrenzt, zog fast die Hälfte der türkischen Juden nach Israel, als es 1948 gegründet wurde. Ausschreitungen gegen nicht muslimische Minderheiten in den 1950ern und Anschläge auf Istanbuler Synagogen 1986 und 2003 bewogen noch mehr Juden zur Abwanderung. Doch das Judentum ist noch immer die älteste lebende Religion in der Türkei, wie Rabbi Chitrik betont. Mit seinen Reisen zu entlegenen Gemeinden will er dazu beitragen, dass das so bleibt.
Der Rabbi auf gemeinsamer Spurensuche mit dem geschichtsbegeisterten Imam.