Unpolitisch ist der ESC schon lang nicht mehr
Die Ukraine hat beste Siegeschancen beim heurigen Song Contest. Nur ein Gesangswettbewerb? Ein Statut will es verhindern, aber de facto spielt die Politik seit 1968 in den ESC hinein. Seither spiegeln sich allerlei Konflikte noch in den profansten Liedern
Der heurige Eurovision Song Contest steht wie niemals zuvor unter politischen Vorzeichen. Russland wurde wegen seiner Invasion in der Ukraine vorsorglich disqualifiziert. Nun gilt die überfallene Ukraine als Favorit. Und zwar so krass, dass manche anzweifeln, dass es sich heuer beim ESC überhaupt um einen Wettbewerb handelt. Die ausführenden Künstler, das Kalush Orchestra, wollten zunächst nicht anreisen, sondern bloß ein Video schicken. Das Lied „Stefania“, das zeitgenössischen Hip-Hop und traditionelle Folkmelodie mischt, ist nur vordergründig eine Liebeserklärung an eine Mutter. Es ist auch ein unzureichend verklausulierter Appell ans Nationalbewusstsein. Rapper Oleh Psjuk, ein Mann mit einem Faible für rosa Häkelhauben, hat mittlerweile eine Sondererlaubnis, das Land temporär zu verlassen, und ist in Turin angekommen. „Wir haben eine besondere Mission“, gab er sich bei seiner Ankunft bedeutungsschwer.
Und doch kann er nur passiv-aggressiv agieren. Lieder können Waffen leider nicht wirklich Paroli bieten. Was leicht geht, ist, dass schwelende Konflikte
ihre symbolische Fortführung im Lied finden. Das hat sogar Tradition.
Wer sehen wollte, der konnte sehen: Tatsächlich war der sich aufbauende Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auch an den ESC-Auftritten der Kontrahenten abzulesen. Für die Feindseligkeiten wurde nicht einmal die feinste Klinge bemüht. Etwa 2007 in Helsinki, als die Ukraine vom Travestiekünstler Verka Serduchka vertreten wurde: Sein Akkordeon-TechnoStampfer „Dancing Lasha Tumbai“hörte sich wie ein hämisches „Dancing Russia Goodbye“an. Die Revanche der Russen folgte 2009, als der ESC in Moskau stattfand. Sie ließen eine in ihrer Heimat in der Qualifikation gescheiterte Ukrainerin für Russland antreten. Anastasia Prikhodko sang den auf Platz elf landenden Titel „Mamo“halb auf Russisch, halb auf Ukrainisch.
Ein Propaganda-Coup. Es war ein Propaganda-Coup der Sonderklasse, war doch das Lied von einem georgischen Komponisten und einer estnischen Komponistin geschrieben worden. Es sollte so aussehen, als hätten sich Menschen ehemaliger Sowjetrepubliken
auf anstrengungslose Weise zusammengetan, um etwas Großes zu leisten. Die Sängerin bereute ihr Antreten später. Es wäre „Hochverrat“gewesen, sagte sie. Eine konsequentere Gegnerin hatte Putin in Ruslana Lyschytschko, die den ESC 2004 in Istanbul gewann. Zehn Jahre danach wurde sie zu einer Leitfigur des Euromaidan, jener Bewegung, der es um die Etablierung von Demokratie in der Ukraine