DER SONG CONTEST 2022
strangers are coming, they come to your house, they kill you all and say we are not guilty“muten wie ein Vorgriff auf die aktuellen Ereignisse an. Trotz Protesten stellte die EBU damals dem Lied den Persilschein aus. Kurios angesichts der damaligen Neuformulierung des Anti-Politik-Statuts: „Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt.“Ernst genommen hat das offenbar niemand.
Wie konnte es überhaupt passieren, dass sich ein ursprünglich unpolitischer Gesangswettbewerb dermaßen aufladen konnte? 1956, bei seiner Erfindung, ging es beim ESC nicht einmal um eine Vision von paneuropäischer Identität. Ganz pragmatisch sollte in Lugano die Zusammenarbeit zwischen Rundfunkanstalten praktiziert werden. Das Fernsehen war ein brandneues Medium, die veranstaltende Körperschaft, die European Broadcasting Union, hatte gerade mal sieben Mitglieder. Zudem war so kurz nach dem Weltkrieg Politik tabu. Es ging eher darum, die Vorstellung einer heilen Welt zu etablieren. Und so wurde beim allerersten ESC vom besten Tag des Lebens gesungen oder das Phänomen der verlorenen Zeit musikalisch umkreist. Die Lieder prunkten mit anheimelnden Melodien und straffen Arrangements. Es gewann der Schweizer Beitrag „Refrain“, ein Lied, das den goldenen Traum einer Jugendliebe aus der Perspektive reiferen Lebensalters reflektierte.
Zehn Jahre später, als Udo Jürgens in Luxemburg mit „Merci Che´rie“die Trophäe holte, wurde das Banner des Eskapismus immer noch wacker gehalten. Die Lieder erzählten von Schweinehirten in Schweden und Männern ohne Liebe in Großbritannien. Jürgens schwärmt von einer in die Brüche gegangen Liebelei. Kühn formulierte er: „Zwingen kann man kein Glück, denn kein Meer ist so wild wie die Liebe.“
Weniger wild, vielmehr diszipliniert verlief im August 1968 die Aggression der Sowjetunion gegen die Cˇ SSR. Das gesamte Frühjahr in der Tschechoslowakei war geprägt von Reformbemühungen der Kommunistischen Partei unter Alexander Dubcˇek. Beim im April stattfindenden ESC in London trat Karel Gott für Österreich an. Sein von Udo Jürgens komponiertes Lied „Tausend Fenster“erzählte von der Entfremdung zwischen Ost und West im geteilten Europa. Antreten durfte Gott
Der 66. ESC
findet in Turin (Italien) statt. Die Halbfinali finden am 10. und 12. Mai statt, das Finale steigt am Samstag, 14. Mai (ORF 1 überträgt jeweils ab 21 Uhr).
Für Österreich
tritt ein Teenagerduo an: Der 19-jährige LUM!X alias Luca Michlmayr und die 18-jährige Pia Maria präsentieren ihre Partynummer „Halo“im ersten Halbfinale.
Russland
wurde nach Beginn des Angriffskriegs von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) vom Bewerb ausgeschlossen.
Die Ukraine
ist aus Sicht der Wettanbieter der mit Abstand klare Favorit auf den Sieg. Nach ESC-Regeln müsste das Land dann im nächsten Jahr den Bewerb ausrichten.
Die ESC-Veranstalter wollen über diesen
Fall noch nicht spekulieren. nur wegen Liberalisierungen des „Prager Frühlings“. So wurde die Kooperation zwischen dem tschechoslowakischen und dem österreichischen Fernsehen möglich, die Voraussetzung für den Auftritt war. Verhindert hat das die sowjetische Invasion nicht. Der eigentliche politische ESC-Eklat 1968 war ein anderer: Joan Manuel Serrat war vorgesehen, das spätere Siegerlied zu singen. Er wollte es auf Katalanisch tun. Diktator Franco verhinderte seine Teilnahme, die Spanierin Massiel übernahm und gewann. Ab sofort war der Bewerb symbolischer Austragungsort konkreter politischer Auseinandersetzung.
Disqualifiziert. Die gesamte Palette an politischen Konflikten war ab sofort am ESC abzulesen. Ein Klassiker ist die wechselseitige Negierung von Türkei und Griechenland nach der teilweisen Besetzung von Zypern durch die Türkei im Jahr 1975. Ein Jahr später sang Mariza Koch im Song „Panagia Mou Panagia Mou“davon, dass die Türkei Zypern mit Napalm zerstört hätte. Die Türkei verweigerte sich dem Wettbewerb und sendete in der Übertragung statt des griechischen Beitrags ein nationalistisches türkisches Lied. Ein Jahr nach dem Kaukasuskrieg hatte Georgien vor, mit einem Song namens „We Don’t Wanna Put In“anzutreten. Der EBU war das zu heiß. Georgien wurde im Vorfeld disqualifiziert.
Viele Jahre lang war das Block-Voting zwischen befreundeten Nationen das größte Ärgernis beim ESC. Schweden
und Dänemark schoben sich gegenseitig genauso gern fette Punkte zu wie Griechenland und Zypern. Russland protegierte die ehemaligen Sowjetstaaten und auch die aus dem zerfallenden Jugoslawien entstandenen Länder entdeckten just beim ESC eine Liebe zueinander, die der Politik keineswegs entsprach. Mit „Insieme“gewann der Italiener Toto Cutugno 1990 in Zagreb. Darin besang er seine Hoffnung, dass Europa die Teilung des Kalten Kriegs überwinden könne.
Offiziell gilt: »Ansprachen und Gesten politischer Natur sind untersagt.« Aber nur offiziell.
Klassische ESC-Rivalen: Russland und Ukraine, Griechenland und Türkei.
Zuletzt schienen die geopolitischen Konflikte überwunden. Der Fokus richtete sich auf gesellschaftspolitische Themen: Queerness, Feminismus, Diversität. Sogar Russland beteiligte sich. Das Mädchenduo T.A.T.u. inszenierte sich 2003 in Riga als lesbisches Paar. Russland schien in einer Art liberalem Aufbruch zu sein. Mittlerweile hat Putin verhindert, dass das progressive, europäische Wertesystem in der russischen Gesellschaft Wurzeln schlagen kann. „Nein, einen schwulen Sohn könnte ich nicht akzeptieren“, sagte Yulia Volkova, eine der Sängerinnen von T.A.T.u., vor acht Jahren. Hoffentlich nur ein Lippenbekenntnis angesichts der Propagandafront. Andernfalls wäre es sehr traurig.