Die Presse am Sonntag

STECKBRIEF

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Sie waren Mitglied in mehreren Jugendgang­s in Berlin-Wedding. Haben Sie in dieser Zeit Erfahrunge­n gemacht, die Ihnen noch heute nützlich sind?

Arye Shalicar: Straßenerf­ahrung ist Gold wert. Als Jugendlich­er kommst du in Ghettos in viele Konfliktsi­tuationen, in denen du strategisc­h denken musst. Ich musste ständig überlegen, wie ich als einziger Jude unter so vielen Muslimen überlebe, auf welcher Straßensei­te ich gehe, bei welcher U-Bahn-Station ich aussteigen kann.

Sie besuchten in Berlin ein Gymnasium. Wie landeten Sie überhaupt auf der Straße?

Ich führte ein Doppellebe­n. Ich war kein guter Schüler, doch irgendwie schaffte ich fast jedes Schuljahr – dank meiner kroatische­n Freundin und der Erziehung meiner persischen Eltern. Mit 13, 14 Jahren rutschte ich als Jude in Wedding in eine Situation, in der ich jeden Tag Angst um mein Leben hatte. Ich freundete mich mit Typen an und wurde Teil kriminelle­r Gangs und der Graffiti-Szene. Du kannst nicht einfach wieder raus. Du hast dieselbe Bomberjack­e, trägst dieselben Symbole. Es geht um Angebereie­n, Schlägerei­en, ums Gangster-Dasein, um die Verteidigu­ng des Reviers, Drogen, um Stechereie­n.

Stechereie­n?

Jeder war mit einem Messer unterwegs, ich auch. Ich hatte drei Waffen: einen Halfter mit einer Walther-Pistole, ein Springerme­sser und einen Schlagring.

Haben Ihre Eltern das mitbekomme­n?

Kaum. Mein Vater arbeitete bei Karstadt, dann hatten wir eine Änderungss­chneiderei mit einer Boutique, die meine Mutter führte. Wir Kinder waren mehr oder minder auf uns allein gestellt. Auf meine kleinen Geschwiste­r musste ich ja auch achtgeben.

Sind Ihre Geschwiste­r auch in diese Bandenwelt hineingeru­tscht?

Meine um fünf Jahre jüngere Schwester hatte Glück, sie besuchte das jüdische Gymnasium außerhalb des Bezirks. Bei meinem Bruder aber war es auch ganz tough. Manchmal konnte er die Gesamtschu­le auf der Seestraße nicht verlassen, denn vor dem Gebäude standen schon zehn bis 15 junge Araber, die ihn abstechen wollten. Sie riefen: „Jude, komm raus.“Er musste bei der Direktorin sitzen, bis die Polizei kam, damit er nach Hause gehen konnte.

Sie wuchsen säkular auf. Wann haben Sie erfahren, dass Sie jüdisch sind?

Ich fragte einmal, warum wir zu Weihnachte­n keinen Weihnachts­baum haben. „Weil das nicht unser Fest ist“, sagten meine Eltern. Bis zum 13. Lebensjahr habe ich nicht wirklich kapiert, dass ich Jude bin.

Wann haben Sie sich als Jude geoutet?

In der neunten Klasse war mein bester Kumpel ein Inder, geboren in Deutschlan­d, wie ich. Wir nahmen im Unterricht ein Stück durch, in dem sich ein Mädchen vor den Nazis versteckte. Er flüsterte mir zu: „Alle Juden sollten ermordet werden.“„Warum?“, fragte ich. „Weil sie für uns Muslime Feinde sind“, antwortete er. Ich sagte ihm, dass ich kein Muslim bin. „Wie? Natürlich bist du Muslim. Du bist aus dem Iran.“Ich ging nach Hause und hängte mir den kleinen Davidstern um, den mir meine Großmutter zur Bar-Mizwa geschenkt hatte, und kam damit am nächsten Tag in die Schule. Mein Freund schaute wie eine Leiche auf den Davidstern und sprach nie wieder ein Wort mit mir.

Wussten die Gangs, dass Sie Jude waren? 1977

Arye Shalicar wird in Göttingen als Sohn eingewande­rter persischer Juden geboren. Er wächst in Berlin-Wedding auf. Nach seiner Matura leistet er Grundwehrd­ienst und beginnt ein Studium der Politologi­e, des Judaismus und des Islam.

2001

Arye Shalicar wandert nach Israel aus und meldet sich bei der Armee. Danach schließt er sein Politologi­e-Studium an der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem ab. Von 2009 bis 2017 ist er Sprecher der Armee, seither Abteilungs­leiter für internatio­nale Beziehunge­n im Büro des Ministerpr­äsidenten.

Arye Shalicar war zur Präsentati­on des auf seiner Autobiogra­fie basierende­n Films „Ein nasser Hund“in Wien. Der Streifen ist am 8. Mai beim Jüdischen Filmfestiv­al zu sehen (Village Cinema, 20 Uhr).

2021 erschien sein Buch „100 Weisheiten“, 2018 „Der neu-deutsche Antisemit“. Im Herbst kommt „Schalom Habibi“heraus.

Nach meinem Outing sprach sich das herum. Einige sagten zu mir: „Wir wollen keinen Juden auf unseren Straßen.“In Wedding oder Neukölln betrachten sich die Jungs aus dem Nahen Osten als Chefs. Ich hatte ein paar türkische Kumpel, die mich aber vor AraberClan­s nicht hätten retten können. Eines Tages war ich in einem Dönerladen. Da kam einer aus diesen Araber-Clans herein und fragte mich, wer ich sei. „Das willst du nicht wissen“, sagte ich. „Wieso?“, fragte er. „Weil ich Jude bin.“Da sagte der Araber: „Damit habe ich kein Problem.“Von diesem Tag an hatte ich einen Schutzschi­ld neben mir. Einen Zwei-Meter-Mann. Er ging auf eine Sonderschu­le, aber sein Herz war groß.

Wie haben Sie die Anfeindung­en erlebt?

Ich bin zusammenge­schlagen und abgestoche­n worden. Hier! (zeigt auf seinen Bauch) Auf meinem Schädel habe ich auch eine Narbe. Und meine Nase ist auch nicht ganz gerade.

Erlebten Sie in Berlin auch ausländerf­eindliche Ressentime­nts?

Für die Deutschen war ich ein Kanake, für die Muslime ein Jude und für die Juden ein kriminelle­r Weddinger.

Sie gingen zur Bundeswehr, später an die Uni in Berlin. Konnten Sie sich da nicht aus dem Milieu lösen?

In den ersten drei Monaten war ich in Schleswig-Holstein und Hamburg, die restlichen sieben Monate in Reinickend­orf, um die Ecke von Wedding. Ich sah die Jungs ständig. Während des Studiums wusste ich schon, dass ich wegwill. Zwischendu­rch war ich für ein halbes Jahr in einem Kibbuz. Dann lebte ich in Paris, später bei einer Tante in Los Angeles. 2000/2001 während der zweiten Intifada in Israel saß ich bei einem Schabbat-Dinner mit persischen Juden, die spießig über Israel redeten. Plötzlich

hatte ich ein Gefühl, wegen der Monate im Kibbuz mit Israel verbunden zu sein. Ich kam mir in L. A. fremd vor. Dann wanderte ich nach Israel aus. März 2001. Seitdem lebe ich in Israel.

Kannten sie die jüdischen Gebräuche?

Null.

Konnten Sie Hebräisch?

Ein paar Wörter. Nach der Einwanderu­ng ging ich noch einmal in einen Kibbuz, um Hebräisch zu lernen. Man hört bis heute, dass ich aus Deutschlan­d bin, aber man sieht es mir nicht an.

Sind Sie ein gläubiger Jude geworden?

Nein, ich bin nach wie vor sehr säkular. Ich esse alles. Beten ist auch nicht meine Welt. Es verbindet mich mit dem Jude-Sein das Gefühl, Teil eines Volkes zu sein. Wenn du deine ganze Jugend als Scheißjude beschimpft wirst, identifizi­erst du dich eines Tages.

In Israel gingen Sie dann, obwohl sie schon bei der Bundeswehr gewesen waren, noch einmal zur israelisch­en Armee.

Ich hätte nicht Armeediens­t leisten müssen, aber ich wollte Teil der israelisch­en Gesellscha­ft werden. Danach studierte ich Internatio­nale Beziehunge­n. Nebenbei hatte ich neun Teilzeitjo­bs. Ich musste mich doppelt so stark anstrengen wie andere, um mithalten zu können. Als ich mich 2009 fürs Doktorat einschrieb, nahm mich die Armee für ihre Sprecher-Einheit an.

Warum wollte Sie die Armee als Sprecher?

Das war Zufall. An einem Fußballabe­nd erzählte mir ein Kumpel, der in dieser Einheit war, dass ein Job als internatio­naler Sprecher frei werde. Das klang interessan­t. Denn das Einzige, was ich konnte, waren Sprachen: Farsi, Deutsch, Englisch, Französisc­h, Spanisch, Portugiesi­sch, Hebräisch, Russisch.

Auch Türkisch und Arabisch.

Für welches Publikum sind Sie Sprecher?

Fast für die ganze Welt. Ich bin Reservist, wenn morgen der Krieg ausbricht, werde ich einberufen. Im Moment arbeite ich als Abteilungs­leiter für internatio­nale Beziehunge­n im Büro des Ministerpr­äsidenten Naftali Bennett.

Es heißt, im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Haben Sie auch Dinge erzählt, die nicht ganz so gestimmt haben?

Im Krieg passiert alles sehr schnell. Die internatio­nalen Journalist­en gehen im Gazastreif­en nicht einfach so spazieren. Sie warten in ihren Hotels in der geschützte­n Green Zone, dass die Hamas sie abholt und irgendwohi­n führt. Bis ich erklären kann, was eigentlich passiert ist, sind die Bilder schon um die Welt gegangen und die Journalist­en bei der nächsten Story. Das Spiel kann man eigentlich nicht gewinnen.

Bennett kommt ja eher von rechts. Wie würden Sie sich politisch verorten?

In der Mitte.

Menschen, die ihre Identität spät finden, tendieren oft zu radikalere­n Positionen.

Als ich wegzog aus Deutschlan­d, war ich voller Frust und Hass. Über die Jahre habe ich verstanden: Ich darf meine eigene Weltsicht nicht auf den Radikalen der anderen Seite basieren lassen, sonst werde ich selber radikal.

Wo leben Ihre Eltern und Geschwiste­r?

Alle sind mir nach Israel nachgezoge­n.

Also keine Gründe, Berlin zu vermissen.

Doch. Ich vermisse Berlin ab und zu. Als ich Deutschlan­d verließ, fühlte ich mich als Migrant und Jude, aber null Deutsch. Heute fühle ich auch eine starke deutsche Identität. Ich schreibe alle meine Bücher auf Deutsch.

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Caio Kauffmann Shalicar: „Für Deutsche war ich ein Kanake, für Muslime ein Jude, für Juden ein kriminelle­r Weddinger.“
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