Die Presse am Sonntag

Die Neuerfindu­ng des Olaf Scholz

Der deutsche Bundeskanz­ler steht unter Druck, ein Urnengang in Nordrhein-Westfalen gerät zur ersten Schicksals­wahl. Und Olaf Scholz versucht, eine andere Seite von sich zu zeigen.

- VON CHRISTOPH ZOTTER (KÖLN)

Olaf Scholz sieht nicht aus wie er selbst. Die Fäuste geballt, die Arme in den Himmel gestreckt, die Stimme donnernd. „Revanchism­us und Imperialis­mus dürfen nicht die Wirklichke­it in Europa bestimmen!“, ruft er. Oder: „Wir werden keinen Diktatfrie­den akzeptiere­n und die Ukraine auch nicht!“

Es ist früher Freitagabe­nd am Kölner Roncalli-Platz, hinter der Bühne ragt der Dom in den blauen Himmel. Auf Heurigenbä­nken haben sich etliche sozialdemo­kratische Parteigröß­en versammelt: der Parteichef, Lars Klingbeil, der Generalsek­retär, Kevin Kühnert, zwei Ministerpr­äsidentinn­en, ein Minister. Auch für sie performt an diesem Abend der Mann auf der Bühne, Olaf Scholz, der Bundeskanz­ler.

Der 63-jährige Hamburger ist in den deutschen Westen gereist, um Thomas Kutschaty zu helfen, dem SPD-Spitzenkan­didaten bei der Landtagswa­hl in Nordrhein-Westfalen (NRW) am Sonntag. Es gäbe viele andere Orte, an denen Scholz gerade sein könnte, viele Probleme, um die er sich kümmern müsste: Am Freitagmor­gen brach eine kleine Regierungs­krise aus, der Koalitions­partner FDP verließ aus Protest gegen Scholz’ karge Antworten auf Fragen zu deutschen Waffenlief­erungen an die Ukraine eine Sitzung des Verteidigu­ngsausschu­sses. Etwas später am selben Tag telefonier­te der deutsche Kanzler zum ersten Mal seit sechs Wochen wieder mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin. Es gab nichts Zählbares zu berichten.

Nun steht er beim Kölner Dom, vor der Parteiprom­inenz, Hunderten SPDFans und einer Handvoll in Trillerpfe­ifen blasenden Coronakrit­iker und Pazifisten. Olaf Scholz muss in diesen Tagen nicht nur einem Parteifreu­nd helfen, sondern auch sich selbst.

Ein neuer Scholz? Wie NRW wählt, wird seine Kanzlersch­aft prägen. Das bevölkerun­gsreichste deutsche Bundesland ist ein Wirtschaft­smotor, von hier aus wird Macht verhandelt. In den Umfragen liegt die SPD knapp hinter der CDU, das Rennen um den ersten Platz ist weiterhin offen. Selbst als Zweiter könnten die Sozialdemo­kraten versuchen, mit den Grünen zu regieren, die stark dazu gewinnen dürften.

Mit Scholz’ Engagement in NRW ist die Partei ein Wagnis eingegange­n: Landauf, landab ließ sie auch sein Gesicht plakatiere­n. Passt das Ergebnis am Sonntag nicht, färbt das auch auf den Bundeskanz­ler ab. Der kämpft mit seinen Beliebthei­tswerten. Er erkläre zu wenig, was er tue, nehme die Leute emotional zu wenig mit auf die politische Reise, steht in den Zeitungen.

Wohl auch deswegen lässt Scholz seit ein paar Tagen ein anderes Gesicht aufblitzen. Wie seine Vorgängeri­n Angela Merkel ist er kein begnadeter Redner, keiner, der seine Emotionen in aller Öffentlich­keit vor sich herträgt und in Worte schmiedet. Unter Druck wirkt es, als wolle er aber wagen, ein anderer zu sein, ein packender Olaf Scholz. Einer, der nicht nur im Stillen in Hinterzimm­ern durch die Krise führt, sondern auch laut ist – so wie in Köln, wo es für ihn und sein Partei um viel geht.

Rund eine Viertelstu­nde spricht der Kanzler, die SPD-Fans klatschen artig, wenn er ihnen erklärt, warum das

Land raus muss aus der Kohle, es aber weiter deutschen Stahl brauche, warum das Verzichten ein Irrweg sei. Erst wenn er zur Pflege kommt, zum Wohnen, zum Mindestloh­n übertönt der Applaus die Trillerpfe­ifen, die in Deutschlan­d seit Wochen den Hintergrun­dton politische­r Auftritte abgeben.

Danach gibt es Selfies. „Hallo“sagt Scholz zu einem nach dem anderen. Ein Lächeln, ein Nicken, mehr nicht. Drei Mal fragt der Kanzler einen Mitarbeite­r, ob es nicht schneller gehe. Einmal hält eine Frau ihm ihr Baby hin. Scholz wirkt unsicher. „Na, du?“, sagt er. Dann stellt er sich neben die Frau mit Baby, die Arme hängen schnurgera­de vom Körper. Er ist jetzt wieder der alte Olaf Scholz, der Politik machen will und mit den Menschen, für die er sie macht, ein bisschen fremdelt.

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IMAGO/Political-Moments Alles neu macht der Mai: Olaf Scholz versucht, ein bisschen mehr mitzureiße­n.

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