Die Neuerfindung des Olaf Scholz
Der deutsche Bundeskanzler steht unter Druck, ein Urnengang in Nordrhein-Westfalen gerät zur ersten Schicksalswahl. Und Olaf Scholz versucht, eine andere Seite von sich zu zeigen.
Olaf Scholz sieht nicht aus wie er selbst. Die Fäuste geballt, die Arme in den Himmel gestreckt, die Stimme donnernd. „Revanchismus und Imperialismus dürfen nicht die Wirklichkeit in Europa bestimmen!“, ruft er. Oder: „Wir werden keinen Diktatfrieden akzeptieren und die Ukraine auch nicht!“
Es ist früher Freitagabend am Kölner Roncalli-Platz, hinter der Bühne ragt der Dom in den blauen Himmel. Auf Heurigenbänken haben sich etliche sozialdemokratische Parteigrößen versammelt: der Parteichef, Lars Klingbeil, der Generalsekretär, Kevin Kühnert, zwei Ministerpräsidentinnen, ein Minister. Auch für sie performt an diesem Abend der Mann auf der Bühne, Olaf Scholz, der Bundeskanzler.
Der 63-jährige Hamburger ist in den deutschen Westen gereist, um Thomas Kutschaty zu helfen, dem SPD-Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) am Sonntag. Es gäbe viele andere Orte, an denen Scholz gerade sein könnte, viele Probleme, um die er sich kümmern müsste: Am Freitagmorgen brach eine kleine Regierungskrise aus, der Koalitionspartner FDP verließ aus Protest gegen Scholz’ karge Antworten auf Fragen zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine eine Sitzung des Verteidigungsausschusses. Etwas später am selben Tag telefonierte der deutsche Kanzler zum ersten Mal seit sechs Wochen wieder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Es gab nichts Zählbares zu berichten.
Nun steht er beim Kölner Dom, vor der Parteiprominenz, Hunderten SPDFans und einer Handvoll in Trillerpfeifen blasenden Coronakritiker und Pazifisten. Olaf Scholz muss in diesen Tagen nicht nur einem Parteifreund helfen, sondern auch sich selbst.
Ein neuer Scholz? Wie NRW wählt, wird seine Kanzlerschaft prägen. Das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland ist ein Wirtschaftsmotor, von hier aus wird Macht verhandelt. In den Umfragen liegt die SPD knapp hinter der CDU, das Rennen um den ersten Platz ist weiterhin offen. Selbst als Zweiter könnten die Sozialdemokraten versuchen, mit den Grünen zu regieren, die stark dazu gewinnen dürften.
Mit Scholz’ Engagement in NRW ist die Partei ein Wagnis eingegangen: Landauf, landab ließ sie auch sein Gesicht plakatieren. Passt das Ergebnis am Sonntag nicht, färbt das auch auf den Bundeskanzler ab. Der kämpft mit seinen Beliebtheitswerten. Er erkläre zu wenig, was er tue, nehme die Leute emotional zu wenig mit auf die politische Reise, steht in den Zeitungen.
Wohl auch deswegen lässt Scholz seit ein paar Tagen ein anderes Gesicht aufblitzen. Wie seine Vorgängerin Angela Merkel ist er kein begnadeter Redner, keiner, der seine Emotionen in aller Öffentlichkeit vor sich herträgt und in Worte schmiedet. Unter Druck wirkt es, als wolle er aber wagen, ein anderer zu sein, ein packender Olaf Scholz. Einer, der nicht nur im Stillen in Hinterzimmern durch die Krise führt, sondern auch laut ist – so wie in Köln, wo es für ihn und sein Partei um viel geht.
Rund eine Viertelstunde spricht der Kanzler, die SPD-Fans klatschen artig, wenn er ihnen erklärt, warum das
Land raus muss aus der Kohle, es aber weiter deutschen Stahl brauche, warum das Verzichten ein Irrweg sei. Erst wenn er zur Pflege kommt, zum Wohnen, zum Mindestlohn übertönt der Applaus die Trillerpfeifen, die in Deutschland seit Wochen den Hintergrundton politischer Auftritte abgeben.
Danach gibt es Selfies. „Hallo“sagt Scholz zu einem nach dem anderen. Ein Lächeln, ein Nicken, mehr nicht. Drei Mal fragt der Kanzler einen Mitarbeiter, ob es nicht schneller gehe. Einmal hält eine Frau ihm ihr Baby hin. Scholz wirkt unsicher. „Na, du?“, sagt er. Dann stellt er sich neben die Frau mit Baby, die Arme hängen schnurgerade vom Körper. Er ist jetzt wieder der alte Olaf Scholz, der Politik machen will und mit den Menschen, für die er sie macht, ein bisschen fremdelt.