Wahlen in einem Land am Abgrund
Am Sonntag wird im Libanon über das Parlament abgestimmt. Es ist die erste Wahl nach der Wirtschaftskrise, Massenprotesten und der Explosion in Beirut. Die Visionen der Oppositionsparteien sind groß, doch ihre Mittel gering.
Es ist ein gewöhnlicher Sonntagabend in Libanons zweitgrößter Stadt, Tripoli: Auf einem gefliesten Platz stehen Plastiksessel um Tische, Männer rauchen Wasserpfeife oder spielen Karten, es riecht nach leicht verbranntem Hühnchen vom Grill nebenan, Lichterschläuche sind um die Bäume gewickelt. In diese Szenerie stellt eine 20-jährige Studentin eine mobile Lautsprecherbox auf einen Tisch und gibt das angeschlossene Mikrofon ihrem Parteikollegen. Obeida Takriti hat ein Anliegen: Er möchte mit den Männern im Cafe´ über Politik sprechen.
Am Sonntag wählen die Libanesen ein neues Parlament. Es sind die ersten Wahlen nach den Massenprotesten 2019, der Wirtschaftskrise und der Explosion in Beirut 2020. Im Libanon ist die Macht unter den Konfessionen aufgeteilt, die Parteien sind seit Jahrzehnten fest an der Macht. Doch das ist auch der Ursprung des Missmanagements, das im Staatsbankrott gipfelte. Viele, vor allem junge Menschen, haben davon die Nase voll. Auch Takriti. Deshalb lässt er sich dieses Jahr zur Wahl als Abgeordneter aufstellen.
„Wir wissen nichts über die Themen und Programme bei den Wahlen“, sagt ein junger Mann bei der Diskussion. „Dafür sind wir hier“, antwortet Takriti. „Wir machen keine Werbung im Fernsehen. Wir kommen und reden über unsere Themen.“Takriti kommt aus Bab el Raml, einem Armenviertel in Tripoli. Den Männern erzählt er, dass er es leid sei, die politischen Führungspersonen um Gefallen wie Stipendien oder die Bezahlung von Operationen zu bitten. Seine Partei stehe für Gesundheitsversorgung und Bildung für alle. Deshalb heißt die Partei „Bürgerinnen und Bürger in einem Staat“, kurz MMFID. Ihr Hauptanliegen ist ein säkularer Staat – oder wie Takriti sagt: „Ein ziviler Staat, der alle integriert.“
Klientelismus und Korruption. So banal das klingt, so radikal ist es im Libanon. Hier leben 18 Religionsgemeinschaften. Während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 haben einander Milizen in verschiedenen Konstellationen bekämpft. Um den Frieden zwischen den Konfessionen zu sichern, beteiligt ein kompliziertes Quotensystem alle an der Macht. Es ist der Versuch, möglichst alle Bevölkerungsgruppen am politischen Leben teilhaben zu lassen. Doch in Wirklichkeit hat das Konfessionssystem dem Klientelismus und der Korruption die Türen geöffnet und den Staat zerfressen. Gegen dieses System gingen im Oktober 2019 Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße. Sie protestierten gegen die Unfähigkeit der Regierung, den Staatsbankrott abzuwehren, und gegen ihre Politik, die in die Taschen der Armen langt, aber nicht die Reichen zu Kasse bittet, die eng mit der Politik verbandelt sind.
Auch Takriti war damals fast täglich auf der Straße. Neben dem zentralen Nour-Platz in Tripoli hat er gemeinsam mit Freundinnen und Freunden ein Zelt aufgestellt und jeden Tag eine Diskussionsrunde veranstaltet. Dort unterhielten sich Stadtbewohner über ihre Wünsche, Hoffnungen und Forderungen.
Auch in diesen Tagen ist er viel unterwegs, seine Stimme ist angeschlagen vom vielen Reden. Ist er ein Aktivist, der nun in die Politik gegangen ist? „Ich mochte die Idee nie, ein Aktivist zu sein. Ich mochte immer die Idee, die Leute dazu zu bringen, sich in der Politik einzubringen.“Er finde es komisch, dass Leute dächten, die Opposition sei die Zivilgesellschaft. „Ich definiere mich als Mitglied einer politischen Partei, die versucht, Akteure der Zivilgesellschaft und diejenigen, die aus dem derzeitigen System herausfallen, dazu zu bringen, mit uns auf einen funktionierenden Staat zu drängen.“
Aus den Protesten 2019 haben sich viele Initiativen, politische Gruppierungen und Parteien gebildet. Einige, die sich nun für die Wahlen aufstellen lassen, stammen aus der Zivilgesellschaft: Ein Umweltingenieur, der sonst Projekte zum Schutz der Umwelt umsetzt. Eine Landschaftsarchitektin, die sich in Kampagnen für den Erhalt von öffentlichen Plätzen einsetzt. Sie sammeln private Spenden, während etablierte Parteien von reichen Businessmännern gefördert werden.
Auf der anderen Seite ist das Establishment. Wie Bahaa Hariri, Bruder des Ex-Ministerpräsidenten Saad Hariri. Während sich der eine Bruder aus der Politik zurückgezogen hat, hat der andere eine eigene Partei gegründet – neben jeder großen Straße im Libanon kleben Werbeplakate für „Zusammen für den Libanon“. Oder Multimillionär Omar Harfouch, der in Tripoli antritt und sich als Stimme der Opposition inszeniert. Wahlen sind eine Frage von Geld: Wer kann die Flächen in der Stadt mit seinem Gesicht zupflastern?
Keine Jobs und kein sauberes Wasser. In Tripoli wird der Libanon im Kleinen sichtbar: Die Stadt beherbergt reiche Männer, wie den Ministerpräsidenten Nadjib Mikati. Gleichzeitig wird sie von der Politik aber vernachlässigt. Den Vereinten Nationen zufolge sind 85 Prozent der Haushalte im Nordlibanon arm: ohne Arbeit, Krankenversicherung oder sauberes Wasser. Das ist der perfekte Nährboden für den Klientelismus.
„Die Verteilung der Wahlbezirke im Libanon folgt reinen konfessionellen Quoten“, sagt Aly Sleem. Er ist Geschäftsführer des libanesischen Verbandes für demokratische Wahlen (Lade), der die Wahlen überwacht und Wahlverstöße dokumentiert. Die 15 Wahlkreise seien genau auf die konfessionelle Mehrheit zugeschnitten. So kommt es, dass sich jede Partei nur um ihre Klientel kümmert.
„Wir wählen diejenigen, die gegen Hisbollah sind!“, ruft ein Mann, der von seinem Sessel aufgesprungen ist. Takriti zeigt ihm auf dem Handy ein Foto, auf dem Hisbollah-Chef Nasrallah und der maronitisch-christliche Samir Geagea einander die Hände schütteln. Er möchte zu verstehen geben: Auch wenn sie einander vordergründig die Schuld für die Misere zuschreiben, stecken die Parteien unter einer Decke.
Etwas, das die alternativen Parteien nicht geschafft haben. Streit entbrannte über Personalien und über die rechte, nationalistisch-christliche Kataeb, deren Abgeordnete nach der Explosion in Beirut 2020 als Erste zurückgetreten sind und sich seither als Opposition inszenieren. Weil sie Unterschiede in Programmen sehen oder Persönlichkeiten ausschließen wollen, konkurrieren die Listen der Alternativen in wichtigen Wahlkreisen. Das kann den traditionellen politischen Kräften zugutekommen.
„Der Wähler gibt seine Stimme nicht nur den Kandidaten desselben Geschlechts und derselben Religion, sondern auch dem bekannteren und besser vernetzten Kandidaten in der Region“, erklärt Sleem. Das Gesetz selbst verbiete es nicht, Dienstleistungen anzubieten, auch nicht während des Wahlkampfs. Deshalb grillt der Schwiegersohn des Präsidenten Fleisch, das er kostenlos aushändigt, und der Milliardär und Abgeordnete Fouad Makhzoumi hat eine eigene Stiftung gegründet, die als Charity Haarsträhnen färbt.
Nach den Massenprotesten 2019 haben sich viele Parteien und Initiativen gebildet. »Die Wahlen sind organisiert von Libanons herrschender Klasse.«
Kleine Gefälligkeiten bekommen zurzeit eine größere Bedeutung. Seit 2019 hat die lokale Währung mehr als 90 Prozent an Wert verloren. Essen ist laut dem Welternährungsprogramm um das Elffache teurer geworden. Tausende haben ihre Arbeit verloren. Der Staat liefert nur zwei Stunden am Tag Strom, der Rest muss mit Generatoren überbrückt werden, deren Rechnung die Kaltmiete weit übersteigt. Die hohen Treibstoffpreise sind auch dort direkt spürbar: Die Generatoren laufen mit Diesel.
Was sind die Chancen der Alternativen? In den Bezirken, in denen sie mit verschiedenen Listen konkurrieren, hätten die alternativen Parteien kaum Chancen, sagt Aly Sleem. Die Wahlhürde für einen Sitz sei im Gebiet Aley mit sieben Prozent am geringsten. Im südlichen Saida liege sie bei 20 Prozent – das sei fast unmöglich für die Alternativen. Schon bei den Wahlen 2018 gab es oppositionelle Parteien, doch nur eine Kandidatin aus der Opposition kam ins Parlament.
„Wir reden wirklich über Politik“. Für Takriti geht es nicht darum, zu gewinnen. „Die Wahlen sind organisiert und kreiert von der herrschenden Klasse“, sagt er. „Sie sind ein Theater, um Legitimität zu manifestieren. Wir müssen dieses Theaterstück als Gelegenheit nutzen, um mit den Menschen zu reden.“Er findet, dass sie schon etwas erreicht haben: „Zumindest haben wir Politiker und Politikerinnen präsentiert, die wirklich über Politik reden, nicht über Dienstleistungen. Leute, die von hier sind, nicht aus der Bourgeoisie mit viel Geld.“