Wie ein Ex-Polizist Fluchtwege aus der Ukraine öffnet
Der in Wien lebende Alberto Andreani ist in den Krieg gereist, um die Familie seiner Frau zu retten. Inzwischen hat er fast 200 Ukrainern geholfen, das Land zu verlassen: Diese Herkulesaufgabe gelingt dank seines riesigen Netzwerks.
Im Wiener Garten von Alberto Andreani ist die Welt wieder ein friedlicher Ort. Die Großmutter sitzt unter der Laube, schaut den beiden Hunden zu, die auf dem Rasen spielen. Albertos Frau, Swetlana, und ihre Schwägerin unterhalten sich, der Neffe stößt dazu. Im Haus, auf dem Küchentisch, stehen zwei große Töpfe. Es werden wieder viele Leute zusammenkommen zum Mittagessen.
Trotz der Ruhe an diesem milden Vormittag ist der Krieg ständig präsent. Nicht nur die vielen ukrainischen Fahnen im Garten, im Wohnzimmer, am Hauseingang erinnern daran. Sondern auch die Gespräche, der ständige Blick auf das Smartphone mit all den Nachrichten und Botschaften aus der Heimat, sorgen dafür.
Die Verwandten der Andreanis sind aus dem ostukrainischen Charkiw geflohen. Die Stadt liegt in Trümmern. Nun leben sie in Wien, bei der Ukrainerin Swetlana und ihrem italienischen Mann daheim. Aber nicht nur ihre Angehörigen nahmen die beiden auf. 20 Kriegsflüchtlinge wohnten zeitweise im Einfamilienhaus. Man rückte zusammen, der Sohn zog in den Keller. Andreani, der in Wien für die UNO arbeitet, brachte all diese Menschen selbst von der Ukraine nach Österreich.
Seit Kriegsbeginn half der frühere Polizist aus Florenz fast 200 Ukrainern, das Land zu verlassen: Gemeinsam mit einem internationalen Team von Freunden, Bekannten, Kollegen und ukrainischen Bürgermeistern öffnete er innerhalb kürzester Zeit einen sicheren Fluchtweg, der die Ukraine, Österreich und Italien verbindet. Die Gruppe ist ständig über WhatsApp in Kontakt, rund um die Uhr im Einsatz. Ihre Mitglieder
organisieren Unterkünfte in Italien und Österreich, assistieren den Geflohenen nach der Ankunft, helfen bei Behördengängen, sammeln Spenden – und das alles in ihrer Freizeit. Viele nehmen sich dafür Urlaub.
Unter Schock. Das Netzwerk entstand vor der ersten Ukraine-Reise Andreanis. Die Entscheidung, ins Kriegsgebiet zu fahren, traf der 58-Jährige spontan: „Als der Krieg ausbrach, hing Swetlana nur am Handy, telefonierte ständig mit ihrer Mutter, den Verwandten in Charkiw. Sie waren im Keller verschanzt, 60 Personen auf engem Raum, hörten die Explosionen draußen.“Das Licht funktionierte nicht. Zum Kochen verwendeten sie Schnee und Regenwasser. Den Bunker zu verlassen war lebensgefährlich. Ein Nachbar sammelte deshalb Handys ein, lud sie an einem Akku auf, brachte sie zurück. Das Telefon war die einzige Verbindung zur Außenwelt.
„Sie waren unter Schock, wie gelähmt“, erinnert sich Alberto. Die Schwiegermutter weigerte sich beharrlich, Charkiw zu verlassen. Das Flehen aus Wien half nichts. In einem Telefonat bat die 84-Jährige schließlich die Tochter: „Ruf nicht mehr an. Ich bin bereits gestorben, begraben in diesem Keller.“Sie antwortete nicht mehr auf Anrufe. Da beschloss Andreani, sie zu holen. Bevor er Anfang März in Richtung Ukraine startete, stellte der Ex-Polizist die WhatsApp-Gruppe zusammen. Mitarbeiter von Europol, Interpol, Frontex, der UNO und von NGOs waren darunter, Polizisten, Staatsanwälte, Journalisten, Psychologen, Sozialarbeiter. „Ich habe ihnen geschrieben: ,Leute, ich fahre in die Ukraine. Helft mir mit euren Kontakten.‘“So geschah es. Sein „Team“lotste ihn durchs Kriegsgebiet: Der eine konsultierte Datenbanken, der andere Landkarten, der Dritte gab Kontaktadressen weiter. Vielleicht hat dies Albertos Leben gerettet.
Er habe in seinem Berufsleben viele gefährliche Situationen erlebt, sei in
Krisengebieten im Einsatz gewesen, sagt der Italiener rückblickend. Doch den Krieg habe er nicht gekannt. „Das Geräusch einer Rakete, die unweit von einem einschlägt, vergisst man nicht.“Die Angst begleite einen, immer. Aber im Vergleich zu dem, was Menschen in der Ukraine täglich erlebten, sei sie eine „kleine Feindin“.
Andreanis Schwiegermutter weigerte sich beharrlich, Charkiw zu verlassen.
Enorme Solidarität. Bei seiner ersten Reise erreichte Andreani die westukrainische Stadt Winnyzja, weiter kam er wegen der Bombardements nicht. Er war beeindruckt von der enormen Solidarität, die er überall sah: Menschen öffneten ihre Häuser für Flüchtlinge aus anderen Landesteilen, teilten Lebensmittel und Kleidung, halfen einander in der Not.
Alberto nahm Kontakt zu Paramilitärs auf, die Evakuierungen organisierten. Diese riefen die Angehörigen in Charkiw an. „Sie sagten: ,Alberto ist in der Ukraine. Er kommt zu euch.‘ Vielleicht hat sie das aufgerüttelt. Sie wollten nicht, dass ich mein Leben riskiere.“Die Familie samt Kindern und Schwiegermutter schaffte es über einen Fluchtweg nach
Winnyzja, zu Alberto. Inzwischen hatten zahlreiche