Im Nachtklub der Buddenbrooks
Was Thomas Manns Figuren im Wurstelprater verloren haben? Die Theatergruppe Nesterval baute ihnen hier ein Rotlicht-Lokal – und will sie sinnlich zugrunde gehen lassen.
Die Nebelmaschine funktioniert schon einmal einwandfrei. Aus dem dichten Dunst ragt eine üppig gedeckte Tafel hervor, der Schein des Neonlichts lässt Plüschsofas, Bartische und eine lebensgroße Marilyn-Monroe-Statue erkennen. Dazwischen herrscht reges Gewusel. „Das ist genug Nebel“, ruft Herr Finnland, während er sich flott durch den Raum schlängelt, vorbei an netzbestrumpften Beinen, blondgelockten Perücken und einem Mann, dessen nackter Oberkörper nur von einem Brustgeschirr aus Leder bedeckt ist. In zehn Minuten geht’s los, erinnert er alle. „Wer macht hier das Licht an? Licht aus bitte!“
Es muss düster sein an diesem frühen Abend in der Praterparzelle 34. Wir sind hier, zwischen Geister- und Minirennbahn, schließlich in einem Nachtklub mit Bordell, dem „Budd’n’brooks“– und damit mitten im Spielort der neuesten Nesterval-Produktion. Die queere Wiener Gruppe, die spezialisiert ist auf immersive, sich über mehrere Zeitebenen und Räume erstreckende Theaterabenteuer, lässt hier Motive und Charaktere aus Thomas Manns großem Gesellschaftsroman auf Sexarbeitsindustrie und Wiener Pratergeschichte treffen. „Sex, Drugs und Budd’n’brooks“, heißt die Produktion, die ab kommender Woche zu sehen ist. Für all jene, die das Glück hatten, Karten zu ergattern: Die neun Spieltermine waren in Windeseile ausverkauft. So hip und beliebt wie Nesterval ist derzeit kaum eine andere Theatertruppe.
Jetzt warten vor dem Pratergebäude – ein einstiges Lokal, das seit Langem leer stand – rund zwanzig SocialMedia-Influencer auf Einlass. Ihnen soll ein kleiner Vorgeschmack auf die Produktion geboten werden. Das Ensemble macht sich bereit. Auch Herr Finnland ist längst im Kostüm: Halboffenes
Hemd in Raubkatzen-Optik, Pornoschnauzer, passende Sonnenbrille. Herr Finnland – so der Künstlername des 39-jährigen Martin Hötzeneder – ist der Leiter und Gründer von Nesterval. Gut gelaunt führt er durch die Räume, die den Geist einer vergangenen Ära ausatmen, die von dreckiger Dekadenz erzählen und erotischen Verheißungen. Ein Team aus acht Set-Designern habe drei Wochen lang am Interieur gearbeitet, erzählt er. Sorgsam platziert sind Vintage-Nippes, Kristallglas und Sexspielzeug. „Bums mich“, steht als Kennzeichen auf einem Autodrom. Verruchte Nachtklubatmosphäre, Jahrmarkt-Frivolität und Retro-Charme, hier kommt alles zusammen.
Verfall einer Praterdynastie. Und wie passt das zu den Buddenbrooks? Die großbürgerliche norddeutsche Kaufmannsfamilie, deren Niedergang Thomas Mann 1901 beschrieb, handelt in der Nesterval-Version nicht mit Getreide, sondern mit Vergnügungen und Lastern. Ihr Familiengefüge wäre aber auch in diesem Kontext vorstellbar, sagt Herr Finnland: „Der Aufstieg und Verfall einer Familie passt nirgendwo besser hin als in den Prater. Hier gibt es eine Dynastie neben der anderen, die im Lauf der Zeit groß geworden ist, von den Kolariks bis zu den Sittler-Koidls. Und manche Praterfamilien sind auch wieder komplett verschwunden.“
Entwickelt haben Nesterval das Stück allerdings ursprünglich nicht für den Wiener Prater, sondern für die Hamburger Reeperbahn. Das renommierte Kampnagel-Festival gab ein Stück in Auftrag. Und Herr Finnland, „Buddenbrooks“-Fan seit Teenagertagen, schlug ebenjenes Werk als Literaturvorlage vor. Bespielt wurde der Club Uebel & Gefährlich. Das Publikum war begeistert, selbst die Thomas-MannGesellschaft habe nach einem Besuch ihr Lob ausgesprochen: „Das ist ein Verein von älteren Menschen. Wir haben uns gedacht: Oh Gott, die werden es hassen. Und dann haben sie gesagt, genau so müsse man Thomas Mann heute inszenieren.“Eine Adelung, sagt Herr Finnland vergnügt.
In der Corona-Spielpause hat Nesterval mit digitalen Formaten experimentiert. Für das Zoom-Theater „Der KreiskyTest“gab es einen Nestroy-Spezialpreis. Damit habe man ein Publikum in 23 Ländern, von Tokio bis New York, erreicht, erzählt Herr Finnland. „Das kann reales Theater nicht.“Dennoch freut er sich, jetzt wieder physisch zu spielen. Und physisch wird es: In den insgesamt 42 Szenen, die es zu erkunden gibt, kommt das Ensemble dem Publikum mitunter recht nahe.
Dass keine Masken mehr vorgeschrieben sind, freut das Ensemble: „Wir spielen damit, dass wir auf unsere Gäste eingehen“, sagt Laura Hermann, die die Rolle der Gerda Nesterval – basierend auf Gerda Buddenbrook – spielt. Die Immersion, die hier dem Publikum geboten wird, gelte auch für sie: „Wir leben wirklich in dieser Geschichte.“Das Publikum kann mit den Figuren in Dialog treten oder nur beobachten, es wird jedenfalls in die Szenen miteinbezogen. Die Mimik und Emotionen der Zuschauer zu sehen, sei dabei essenziell,so Hermann.
»Der Aufstieg und Verfall einer Familie passt nirgendwo besser hin als in den Prater.«
Acht Set-Designer arbeiteten drei Wochen lang am Interieur des »Budd’n’brooks«.
Ansonsten werde vom Publikum nicht viel verlangt, erklären die Nestervals. „Sie müssen nichts machen“, wird zu Beginn des Stücks betont. Dahinter steckt auch eine Weiterentwicklung der Gruppe: Waren frühere Produktionen oft Performance und (Rätsel-)Spiel zugleich, ist der Theateraspekt mittlerweile in den Vordergrund gerückt. Das Publikum soll sich treiben und die Eindrücke wirken lassen, muss aber nicht nach geheimen Zusammenhängen suchen oder akribisch Jahreszahlen notieren. Da seien die „Buddenbrooks“ohnehin komplex genug. Gelesen haben muss man das Buch übrigens auch nicht, sagt Herr Finnland, das bringe keinen Vorteil: „Nesterval arbeitet ja seit Beginn an mit der bewussten Überforderung des Publikums.“