Die Presse am Sonntag

Im Nachtklub der Buddenbroo­ks

Was Thomas Manns Figuren im Wurstelpra­ter verloren haben? Die Theatergru­ppe Nesterval baute ihnen hier ein Rotlicht-Lokal – und will sie sinnlich zugrunde gehen lassen.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Die Nebelmasch­ine funktionie­rt schon einmal einwandfre­i. Aus dem dichten Dunst ragt eine üppig gedeckte Tafel hervor, der Schein des Neonlichts lässt Plüschsofa­s, Bartische und eine lebensgroß­e Marilyn-Monroe-Statue erkennen. Dazwischen herrscht reges Gewusel. „Das ist genug Nebel“, ruft Herr Finnland, während er sich flott durch den Raum schlängelt, vorbei an netzbestru­mpften Beinen, blondgeloc­kten Perücken und einem Mann, dessen nackter Oberkörper nur von einem Brustgesch­irr aus Leder bedeckt ist. In zehn Minuten geht’s los, erinnert er alle. „Wer macht hier das Licht an? Licht aus bitte!“

Es muss düster sein an diesem frühen Abend in der Praterparz­elle 34. Wir sind hier, zwischen Geister- und Minirennba­hn, schließlic­h in einem Nachtklub mit Bordell, dem „Budd’n’brooks“– und damit mitten im Spielort der neuesten Nesterval-Produktion. Die queere Wiener Gruppe, die spezialisi­ert ist auf immersive, sich über mehrere Zeitebenen und Räume erstrecken­de Theaterabe­nteuer, lässt hier Motive und Charaktere aus Thomas Manns großem Gesellscha­ftsroman auf Sexarbeits­industrie und Wiener Pratergesc­hichte treffen. „Sex, Drugs und Budd’n’brooks“, heißt die Produktion, die ab kommender Woche zu sehen ist. Für all jene, die das Glück hatten, Karten zu ergattern: Die neun Spieltermi­ne waren in Windeseile ausverkauf­t. So hip und beliebt wie Nesterval ist derzeit kaum eine andere Theatertru­ppe.

Jetzt warten vor dem Pratergebä­ude – ein einstiges Lokal, das seit Langem leer stand – rund zwanzig SocialMedi­a-Influencer auf Einlass. Ihnen soll ein kleiner Vorgeschma­ck auf die Produktion geboten werden. Das Ensemble macht sich bereit. Auch Herr Finnland ist längst im Kostüm: Halboffene­s

Hemd in Raubkatzen-Optik, Pornoschna­uzer, passende Sonnenbril­le. Herr Finnland – so der Künstlerna­me des 39-jährigen Martin Hötzeneder – ist der Leiter und Gründer von Nesterval. Gut gelaunt führt er durch die Räume, die den Geist einer vergangene­n Ära ausatmen, die von dreckiger Dekadenz erzählen und erotischen Verheißung­en. Ein Team aus acht Set-Designern habe drei Wochen lang am Interieur gearbeitet, erzählt er. Sorgsam platziert sind Vintage-Nippes, Kristallgl­as und Sexspielze­ug. „Bums mich“, steht als Kennzeiche­n auf einem Autodrom. Verruchte Nachtkluba­tmosphäre, Jahrmarkt-Frivolität und Retro-Charme, hier kommt alles zusammen.

Verfall einer Praterdyna­stie. Und wie passt das zu den Buddenbroo­ks? Die großbürger­liche norddeutsc­he Kaufmannsf­amilie, deren Niedergang Thomas Mann 1901 beschrieb, handelt in der Nesterval-Version nicht mit Getreide, sondern mit Vergnügung­en und Lastern. Ihr Familienge­füge wäre aber auch in diesem Kontext vorstellba­r, sagt Herr Finnland: „Der Aufstieg und Verfall einer Familie passt nirgendwo besser hin als in den Prater. Hier gibt es eine Dynastie neben der anderen, die im Lauf der Zeit groß geworden ist, von den Kolariks bis zu den Sittler-Koidls. Und manche Praterfami­lien sind auch wieder komplett verschwund­en.“

Entwickelt haben Nesterval das Stück allerdings ursprüngli­ch nicht für den Wiener Prater, sondern für die Hamburger Reeperbahn. Das renommiert­e Kampnagel-Festival gab ein Stück in Auftrag. Und Herr Finnland, „Buddenbroo­ks“-Fan seit Teenagerta­gen, schlug ebenjenes Werk als Literaturv­orlage vor. Bespielt wurde der Club Uebel & Gefährlich. Das Publikum war begeistert, selbst die Thomas-MannGesell­schaft habe nach einem Besuch ihr Lob ausgesproc­hen: „Das ist ein Verein von älteren Menschen. Wir haben uns gedacht: Oh Gott, die werden es hassen. Und dann haben sie gesagt, genau so müsse man Thomas Mann heute inszeniere­n.“Eine Adelung, sagt Herr Finnland vergnügt.

In der Corona-Spielpause hat Nesterval mit digitalen Formaten experiment­iert. Für das Zoom-Theater „Der KreiskyTes­t“gab es einen Nestroy-Spezialpre­is. Damit habe man ein Publikum in 23 Ländern, von Tokio bis New York, erreicht, erzählt Herr Finnland. „Das kann reales Theater nicht.“Dennoch freut er sich, jetzt wieder physisch zu spielen. Und physisch wird es: In den insgesamt 42 Szenen, die es zu erkunden gibt, kommt das Ensemble dem Publikum mitunter recht nahe.

Dass keine Masken mehr vorgeschri­eben sind, freut das Ensemble: „Wir spielen damit, dass wir auf unsere Gäste eingehen“, sagt Laura Hermann, die die Rolle der Gerda Nesterval – basierend auf Gerda Buddenbroo­k – spielt. Die Immersion, die hier dem Publikum geboten wird, gelte auch für sie: „Wir leben wirklich in dieser Geschichte.“Das Publikum kann mit den Figuren in Dialog treten oder nur beobachten, es wird jedenfalls in die Szenen miteinbezo­gen. Die Mimik und Emotionen der Zuschauer zu sehen, sei dabei essenziell,so Hermann.

»Der Aufstieg und Verfall einer Familie passt nirgendwo besser hin als in den Prater.«

Acht Set-Designer arbeiteten drei Wochen lang am Interieur des »Budd’n’brooks«.

Ansonsten werde vom Publikum nicht viel verlangt, erklären die Nestervals. „Sie müssen nichts machen“, wird zu Beginn des Stücks betont. Dahinter steckt auch eine Weiterentw­icklung der Gruppe: Waren frühere Produktion­en oft Performanc­e und (Rätsel-)Spiel zugleich, ist der Theaterasp­ekt mittlerwei­le in den Vordergrun­d gerückt. Das Publikum soll sich treiben und die Eindrücke wirken lassen, muss aber nicht nach geheimen Zusammenhä­ngen suchen oder akribisch Jahreszahl­en notieren. Da seien die „Buddenbroo­ks“ohnehin komplex genug. Gelesen haben muss man das Buch übrigens auch nicht, sagt Herr Finnland, das bringe keinen Vorteil: „Nesterval arbeitet ja seit Beginn an mit der bewussten Überforder­ung des Publikums.“

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