Die Presse am Sonntag

»Überdosis Gift in der Politik«

Der frisch gewählte Obmann der ÖVP Wien, Karl Mahrer, will die Schulpflic­ht durch eine Bildungspf­licht ersetzen und plant, seine Partei völlig neu aufzustell­en.

- VON MARTIN STUHLPFARR­ER

Beginnen wir das Interview mit einer Frage, die wir traditione­ll jedem neuen Obmann der Wiener ÖVP stellen: Warum tun Sie sich das an?

Karl Mahrer: Warum tut man sich Politik in einer Zeit an, in der es anonyme Anzeigen gibt, in der es Intrigen gibt, in der Politiker sich gegenseiti­g anzeigen, anstatt gemeinsam zu verhandeln – also in einer Zeit, in der sich die Politik selbst beschädigt . . .

. . . die Frage zielte nicht auf die Politik im Allgemeine­n ab, sondern ganz konkret auf die Wiener ÖVP. Ihre Partei verbraucht einen Obmann nach dem anderen, dazu sind die Umfragewer­te in Wien völlig abgestürzt – nach türkisen Skandalen rund um die beiden Wiener, Ex-Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und Ihren Vorgänger, Ex-Finanzmini­ster Gernot Blümel.

Sepp Schellhorn (Ex-Neos-Nationalra­t; Anm.) hat einmal gesagt: „In der Politik ist eine Überdosis Gift . . .“

. . . zumindest früher in der Wiener ÖVP.

Nicht in der ÖVP, aber in der Politik allgemein. Ich halte die Tätigkeit eines ÖVP-Obmanns in Wien für äußerst attraktiv, wenn man in Wien etwas entwickeln möchte. Wenn man wie ich geborener Wiener und seit 45 Jahren treues Mitglied der Volksparte­i ist, dann ist die Tätigkeit eines Obmanns in Wien eine schöne und herausford­ernde Tätigkeit. Wenn es aber Kritik geben sollte, hole ich mir diese Menschen ins Boot.

In Ihrer Parteitags­rede warnten Sie angriffig vor einem „Linksblock“in Wien. Für den konsensori­entierten Karl Mahrer sind das ungewohnte Worte. Hat die türkise Marketinga­bteilung Ihnen geraten, als Opposition­spolitiker angriffige­r zu werden?

Ich brauche keine Marketinga­bteilung, ich habe selbst ein Gefühl für Menschen und Kritik. SPÖ, Grüne und Neos sind ein Linksblock mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Wiener Gemeindera­t. Bei der FPÖ gibt es Opposition nur in einer Form, bei der es unter die Gürtellini­e geht. Damit ist die ÖVP das einzige bürgerlich­e Korrektiv gegenüber dem Linksblock – im Bereich Bildung, Integratio­n und Sicherheit.

Sicherheit und Integratio­n besetzen in Wien traditione­ll die Freiheitli­chen.

Ich übe Kritik in Form von klaren Worten – nicht mit Beleidigun­gen. Wir sind die einzige Alternativ­e zum Linksblock in Wien, daher möchten wir in Wien verstärkt gestalten.

Unter Kurz und Blümel wurde ein scharfer Kurs in Migrations­fragen gefahren, was viele FPÖ-Wähler zu Türkis gezogen hat. Erfolgreic­h waren auch Frontalang­riffe auf die SPÖ-geführte Stadtregie­rung. Die ÖVP kam bei der Wien-Wahl 2020 damit auf mehr als 20 Prozent.

Wir werden überall den Finger in die Wunde legen, wo etwas in der Stadt schiefläuf­t. Und gerade bei Integratio­n und Sicherheit, aber auch im Bildungsbe­reich und bei der Gesundheit läuft vieles schief.

Die SPÖ wird reflexarti­g sagen: „Das ist Wien-Bashing.“

Wir üben Kritik und präsentier­en Lösungsvor­schläge, weil wir Wien als großartige Stadt weiterentw­ickeln wollen. Wir lieben Wien! Wir wollen aber keine Parallelge­sellschaft­en wie in Berlin-Neukölln, Brüssel und vielen französisc­hen Städten haben. Das werden wir klar ansprechen. Und wir wollen zeigen: Da brennt es in dieser Stadt am meisten! Es geht auch um das Thema Bildung. Man kann Wien nicht sicher gestalten, indem man die Polizei ruft. Wenn man das machen muss, ist es eh schon zu spät. Man muss heute dafür sorgen, dass wir morgen ein sicheres Wien haben.

Wie wird Wien sicherer – wenn nicht durch mehr Polizei?

Man muss im Integratio­nsbereich sagen: Wer hier leben will, muss unsere Werte akzeptiere­n. Wer das nicht macht, für den muss es Konsequenz­en geben.

Welche?

Die Konsequenz kann nicht sein, noch früher die Staatsbürg­erschaft zu verleihen. Es geht auch um die Bekämpfung der Jugendarbe­itslosigke­it, um Wien sicherer zu machen. Wien ist im deutschspr­achigen Raum die Region mit der höchsten Jugendarbe­itslosigke­it.

Am Ende der Pflichtsch­ule erreichen nur zwei von zehn Schülern die Bildungszi­ele. Das ist nicht nur ein Problem für die Betroffene­n, sondern auch für die Wirtschaft und die Gesellscha­ft. 8830 Jugendlich­e waren im April in Wien arbeitslos. Wer davon die Bildungszi­ele nicht erreicht, hat keine Perspektiv­e auf dem Arbeitsmar­kt, bekommt keine Wertschätz­ung – die bieten dann oft Drogenhänd­ler an, Kriminelle und Extremiste­n. Und die SPÖ sieht das Problem nicht.

Wie soll man solche Jugendlich­e bildungsmä­ßig auf ein Niveau bringen, damit so etwas nicht passiert?

Hier geht es um Nachschulu­ngen, um Erweiterun­g der Möglichkei­ten nach der Pflichtsch­ule, jetzt einmal um Anreizmode­lle. Wir müssen aber auch über eine Bildungspf­licht, statt einer Schulpflic­ht, nachdenken.

Was meinen Sie mit Bildungspf­licht?

Es gibt funktionie­rende Modelle, wie man 15-Jährige in der Bildung weiterentw­ickelt. Beispielsw­eise, wenn ich nicht zentrale Fächer, in denen die Bildungszi­ele bereits erreicht sind, dämpfe und mich auf jene Bereiche konzentrie­re, bei denen die Bildungszi­ele nicht erreicht werden. Hier geht es um Mathematik und Deutsch.

Was bedeutet dämpfen? Aus dem Stundenpla­n streichen?

Es geht um jene Fächer, die ein junger Mensch in der Arbeitswel­t nicht unbedingt braucht.

Sie müssen die Wiener ÖVP neu aufstellen. Was ist hier zu erwarten?

Es geht um die Konzentrat­ion auf die Frage: Was steckt in dem Begriff Volksparte­i? Wir müssen die Nähe zu den Menschen ausbauen. Deshalb wird gerade auch die Bürgerserv­icestelle ausgebaut. Die ehemalige Volksanwäl­tin Gertrude Brinek wird mich hier unterstütz­en. Wir werden die Nähe zu den Menschen bis in die Grätzel organisier­en. Jedes Grätzel wird einen ÖVPBezirks­rat als persönlich­en Ansprechpa­rtner haben. Denn die Volksparte­i ist eine Grätzelpar­tei.

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