Wie gingen die Wikinger?
Warum die Besiedler Grönlands verschwanden – und wohin –, ist seit Jahrhunderten ein Rätsel. Nun gibt es zumindest für Ersteres neue Hypothesen.
Was war das Schicksal so vieler menschlicher Wesen, die so lang von jeder Verbindung mit der zivilisierten Welt abgeschnitten waren? Wurden sie durch eine Invasion der Eingeborenen zerstört oder von den Launen des Klimas oder der Unfruchtbarkeit der Böden?“Das fragte sich 1721 der protestantische Missionar Hans Egede, der aus Norwegen nach Grönland gekommen war, um die dortigen Katholiken zu bekehren, aber keine Menschenseele fand. Ähnliches war schon 1361 durch den Kopf des katholischen Priesters Ivar Ba´rdason gegangen, als er seine Schäfchen gesucht, aber nur „verwilderte Rinder und Schafe“gesichtet hatte, „keine Menschen, weder Christen noch Heiden“.
Das war nur die halbe Wahrheit – Inuit gab es durchaus –, aber das zentrale Rätsel ist bis heute ungelöst: Warum sind die Wikinger auf Grönland verschwunden? Und, noch ungeklärter: Wohin sind sie verschwunden? Gekommen sind die ersten im Jahr 985 unter Führung Eriks des Roten, eines Totschlägers, der erst aus Norwegen verbannt worden war und dann aus Island, er hat den Namen der Insel erfunden, den Siedlern grünes Land versprochen.
Stattdessen kamen sie in eine weiße Wüste, die nur an der Südküste eisfreie Bereiche hatte. Und auch die waren suboptimal für die Wirtschaftsweise der Ankömmlinge, die Haltung von Nutztieren, Rindern vor allem. Denen boten die kargen Böden wenig Gras bzw. Heu, so dass selbst in guten Jahren manche Tiere im Frühjahr auf die Weiden getragen werden mussten. Immerhin, zunächst waren die Jahre gut – die mittelalterliche Warmzeit war angebrochen –, in den zwei größeren Siedlungen lebten bald um die 4500 Bewohner.
Und sie lebten nicht schlecht, obwohl sie fast alles aus Norwegen importieren mussten, selbst Bauholz. Aber auch Luxusgüter wie Fensterglas und Glocken – die grönländischen Wikinger, die ihrer Gewalttätigkeit wegen bald keinen Bischof mehr fanden, bauten viele Kirchen –, bezahlt wurde auch mit
Luxusgütern, Eisbären, Fellen und lebenden Tieren, vor allem aber Elfenbein: Stoßzähnen von Walrossen.
Das ging drei Jahrhunderte gut, dann wurde es kälter, die übernutzten Böden erodierten, und die Arroganz der Wikinger hinderte sie daran, von ihren Nachbarn, den Inuit – die sie verächtlich Skraelings nannten, Wichte – zu lernen und sich von den Schätzen des Meers zu ernähren. Lieber verhungerten sie, um 1340 verschwanden die letzten. „Es wurde kalt, und sie gingen“, fasste 1991 Thomas McGovern zusammen, der 1976 als Archäologiestudent erstmals auf der Insel gegraben hat und später zu der Autorität wurde: „Jeder einzelne fand den Tod“(Arctic Anthropology 28, S. 77). Diese Geschichte baute Jared Diamond 2005 in „Collaps“zum klassischen Exempel dafür aus, wie Menschen in ihrer Hybris sich ihr eigenes Grab schaufeln.
Walrosse. Zu der Zeit allerdings hatte sich längst abgezeichnet, dass die Erzählung zu schlicht war, erodieren lassen hatte sie just McGovern, der mit seinen Schülern immer mehr Teile eines komplexeren Puzzles zusammen getragen hat, in dem die Wikinger durchaus Lern- und Anpassungsfähigkeit bewiesen, aber von höheren Mächten zerrieben wurden, denen des Klimas und der Geopolitik. Die Übernutzung der zentralen Ressource war allerdings auch dabei, die der Walrosse: Die – und nicht das grüne Land – hatten die Siedler angelockt, nachdem sie die Walrosse Islands ausgerottet hatten. Und von denen lebten sie lang gut, sie versorgten Europa mit Elfenbein: Dort gab es Bedarf und Wohlstand, und die Handelswege für Elfenbein von Elefanten waren abgeschnitten, weil die Mauren den Norden Afrikas in ihrer Macht hatten.
So waren die Walrosse im Süden Grönlands bald weg, die Jäger mussten immer weitere Fahrten auf sich nehmen – „15 bis 20 Rudertage“verzeichnete eine Chronik –, sie brachten immer kleinere Zähne zurück, von Weibchen meist, James Barrett (Cambridge) hat es mit Genanalysen von Oberkiefern gezeigt, in denen die Zähne nach Europa geliefert und die in Werkstätten in Dublin, Trondheim und Gent in den Müll geworfen wurden (Quaterny Science Reviews 229 106122).
Dann stellten die Werkstätten den Betrieb ein, die Pest fegte Europa leer, nach Grönland kam sie nicht, aber das mühsam Erjagte war wertlos. Zugleich machte das Klima die Landwirtschaft schwieriger, die Wikinger hielten mit Düngung und Bewässerung dagegen, auch mit Mauern gegen die Erosion. In ihrer Not gingen sie sogar an eine Nahrungsquelle im Meer, Robben.
Es half nichts: Zunehmende Vereisung und immer rauere See machten die Jagd zu gefährlich und brauten sich mit den anderen Übeln zum „perfekten Sturm“(Barrett) zusammen. Mitte des 14. Jahrhunderts war alles vorbei, Berichte gibt es nicht, die einzigen Zeugen sind tote Fliegen, die Archäologen aus dem Staub auf den Böden der Bauernhöfe siebten, die nicht mehr gefegt worden waren: Ganz unten fanden sich wärmeliebende Arten, dann an Kälte angepasste, dann keine mehr (Science 257, S. 924).
Aber war es wirklich die Kälte, die den letzten Akt einläutete? Zuletzt wurden zwei alternative Hypothesen vorgeschlagen, die erste von Marisa Borregine (Harvard) auf der Jahrestagung der American Geological Union: Demnach war es eine Nebenwirkung der Kälte, das Eis, das die Küsten überzog und nach unten drückte und zugleich mit seiner Masse – bzw. ihrer Gravitation – Wasser anzog und über große Teile des landwirtschaftlich genutzten Landes fluten ließ (AGU 15. 12.). In die Gegenrichtung geht der Vorschlag von Raymond Bradley, der in Sedimenten eines Sees nahe der Siedlungen Signaturen dafür gefunden hat, dass es in der Region kaum kälter wurde, aber immer trockener: Demnach wurden die Wikinger nicht von zu viel Wasser ans Ende gebracht, sondern von zu wenig (Science Advances 23. 3.).
Und dann? Das größere Problem des Verschwindens liegt nicht im Warum, sondern im Wohin: Auf der Insel können sie nicht (alle) gestorben sein, denn dort haben sie nichts hinterlassen, was Wert hatte, keine Waffen, keinen Schmuck, sie müssen alles zusammengerafft und mitgenommen haben. Sie müssen auch viele gewesen sein, Hunderte mindestens. Aber sie sind nirgends aufgetaucht.
Lang galten sie als Beispiel dafür, wie Menschen sich ihr eigenes Grab schaufeln.
Es kam zu viel zusammen, von den Launen der Geopolitik zu denen des Klimas.