»Holocaust war allgegenwärtig«
Nach zwei Jahren Pandemie-Pause begaben sich Überlebende und Vertriebene aus Wien und ihre Nachkommen auf alte Spuren: Erinnerungen an eine Stadt, die Gift versprühte.
Sylvia und Peter Last wissen nicht, wie die Bilder entstanden sind. Drei Stück sind es, veröffentlicht im Hetz- und Hassblatt „Stürmer“. Eine Kopie der Seite hat das Ehepaar aus New York nach Wien mitgenommen, sie falten sie auf und legen sie auf einen kleinen Tisch. Die drei Bilder sind aneinandergereiht, sie haben Untertitel und sollen eine Geschichte erzählen. Unter dem ersten Bild – zu sehen ist ein elegant gekleidetes Paar mit einem Kinderwagen – steht zu lesen: „Im Honigmond. Im Juli 1938 zu Prag. Der Jude hat eine Nichtjüdin geheiratet. Stolz schiebt er selbst den Kinderwagen durch die Straßen Prags.“
Auf dem zweiten Bild ist das Kind etwas größer, die Mutter schiebt den Wagen, der Vater ist einen Schritt hinter ihr. „Mißmutig lacht der Jude (. . .) Er sucht nach Mitteln und Wegen, wie er seine nichtjüdische Ehefrau und den Mischling auf die sicherste Art loswerden kann.“Das dritte Bild: Nur die Frau mit Kind. „Die deutsche Frau ist allein.“Der Vater habe sie verlassen.
Eine Mahngeschichte soll das sein. Sylvia Last sagt, ihr Vater wurde mitten in Prag erschossen, die Umstände sind unklar. Das Baby auf den Bildern, das ist sie selbst.
Fahrten zum Hafen. Hinter dem Paar hängen in Sepia gehaltene Bilder aus der Ausstellung „Für das Kind“über die Kindertransporte nach Großbritannien in den Jahren 1938/39, die derzeit im Bezirksmuseum Josefstadt zu sehen ist. Die Ausstellung ist einer der Programmpunkte für die 30-köpfige Gruppe rund um die Familie Last: Nach zwei Pandemiejahren hat das Jewish Welcome Service wieder eine Reise im Rahmen des Programms „Welcome to Vienna“organisieren können.
Peter Last holt seinen alten Reisepass heraus, auf der dritten Seite zeigt ihn das Passbild als Kind, die Haare lang, gelockt und schön gekämmt. Geboren 1935, Wohnort Wien IV. Eine Seite später zeugt ein Visum von seiner Fahrt in die Schweiz, unter „Zweck“steht zu lesen: „zu seiner Mutter“. Das war im Mai 1938, an die Reise kann er sich nicht erinnern, er war zu klein. Die
Mutter war vorausgegangen, eine Cousine war mit der Bankerfamilie Julius Bär verwandt, dort kamen sie unter, und dort warteten sie – wieder vereint – auf das Visum nach Amerika.
Der Vater, ein Arzt, war in New York. Schon 1936 kam er in der Metropole an, mit der Idee, sich mit seiner Familie hier niederzulassen, nachdem Wien bereits Gift versprühte. Sein erster Besuch aus New York in Wien sei durchaus spektakulär gewesen, erzählt Last, der Vater habe sein Auto in Amerika eingeschifft und sei damit in Wien herumgefahren. „Er kam und hat gesagt, alle sollen die Stadt verlassen, aber niemand hat ihm geglaubt.“
Er ging zurück nach Amerika, ließ sich sein Schweizer Medizinstudium anrechnen. Peter Lasts Familie schaffte es, vor dem „Anschluss“zu fliehen: Seine Eltern, später seine Großeltern, konnten nach Kuba und ließen sich dort nieder. In New York angekommen, verbrachte Last als Kind unzählige Stunden im Auto. Es waren Fahrten zum Hafen, um von dort Vertriebene, Überlebende abzuholen.
Diana Zelig erinnert sich sehr gut an ihre Straße, an ihre Freunde. In der Blumauergasse 16 im zweiten Wiener Gemeindebezirk hatte der Vater einen kleinen Schusterladen, auf den Pflastern vor dem Geschäft verbrachte Zelig, Jahrgang 1930, ihre Kindheit. Warum sie diese Tage derart lebendig in Erinnerung hat, habe auch damit zu tun, dass ihre Eltern stets Deutsch mit ihr gesprochen haben, erzählt Zelig im Bezirksmuseum. Auch dann, als sie aus Wien geflohen waren und sich in Australien niedergelassen hatten. „Meine Mutter sagte immer: Du musst wissen, wo du auf die Welt gekommen bist.“Aber mehr wollte die Mutter nicht weitergeben. Die Tochter, geborene Dina Bronstein, ein Einzelkind, sollte nie mitbekommen, was ihre Eltern im Wien der 1930er-Jahre erleben mussten.
Die Flucht aus Wien, 1938, gelang nur, weil die australischen Behörden eine Ausreisebewilligung an die Familie Bronstein ausgestellt hatten. Doch das Papier galt eigentlich der Familie ihres Onkels, dem Bruder des Vaters. Sie hatten allesamt ähnliche Namen, erzählt Zelig: Ihr Vater hieß Jitzak, ihr Onkel Jakob, ihre beiden Frauen hießen ebenfalls ähnlich, die Töchter ganz gleich: Dina. Sie konnten die Bewilligung für sich nutzen, während sich die Spuren der Familie ihres Onkels bereits zuvor in Polen verloren hatten. Nie sind die Eltern über diesen Verlust hinweggekommen, sagt Zelig; und zeitlebens haderten sie damit, sich mit deren Namen gerettet zu haben.
Ihr Schiff kam im Jänner 1939 in Melbourne an. Mit ihrer Ankunft blieb die Erinnerung an Wien zurück. „Die Psychologie dieser Zeit war, die Vergangenheit zurückzulassen“, sagt Suzanne Hampel. Zeligs Töchter Hampel und Michelle Zelig besuchten in Melbourne eine private jüdische Schule. „Es war ungewöhnlich, dass wir Großeltern hatten“, erzählt Hampel. „Keiner unserer Freunde hatte Großeltern.“Vor allem Hampel war sich der Geschichte ihrer Eltern stets bewusst, erzählt sie, auch wenn alles zunächst eine diffuse Ahnung blieb. An die Albträume des Vaters könne sie sich erinnern; er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald.
Jedes Jahr richteten Überlebende von Buchenwald einen Ball in Melbourne aus.
Ein zweiter Geburtstag. „Der Holocaust war allgegenwärtig in meinem Leben“, sagt Hampel. Jedes Jahr am 11. April kamen in Melbourne 65 Buchenwald-Überlebende zusammen, sie richteten einen Ball aus – „einen Ball“, wiederholt sie. Der Vater sagte zur Begründung: „Es ist unser eigentlicher Geburtstag.“Mit allen Überlebenden hielt er intensive Kontakte, sie ließen einander nie wieder los. Hampel wurde Lehrerin, sie unterrichtet heute an der Monash-Universität in Melbourne Holocaust-Studien. Ihr Vater sei stolz gewesen, dass sie die Geschichten weitererzählt. Viele Jahre nach seiner Befreiung besuchten die Töchter Buchenwald. Der Vater kam nicht mit, nie wieder wollte er diesen Boden betreten.