Chinas Clipshow kapert Cannes
Die Videoplattform TikTok und das Filmfest an der Cˆote d’Azur sind 2022 offizielle Medienpartner. Das ist ebenso passend wie widersinnig. Und sorgte für einen Interventions-Eklat.
In Cannes finden heuer zwei Filmfestivals statt. Eines davon läuft im Kino, wo mehrstündige Filme vor üppigem Publikum auf riesigen Leinwänden flimmern – in hehren Lichtspielstätten mit klangvollen Namen wie Grand The´aˆtre Lumie`re, Cine´ma Olympia und Espace Miramar.
Ein zweites spielt sich indessen auf handgroßen mobilen Bildschirmen ab, wo unzählige Videoclips mit einer Dauer von drei Sekunden bis zehn Minuten gestreamt werden, von neugierigen oder gelangweilten Einzelpersonen und Grüppchen aus aller Welt.
Ganz recht: TikTok ist an der Coˆte d’Azur angekommen. Ob das Grund zur Freude ist oder ein Omen des Untergangs, wird bei den wichtigsten europäischen Filmfestspielen heiß diskutiert. Unweit des roten Teppichs vor dem Palais des Festivals prangt ein enormes Werbeplakat, auf dem steht: „Ceci n’est pas un film, c’est une video TikTok“. Eine Anspielung auf „Der Verrat der Bilder“, das wohl berühmteste Kunstwerk des belgischen Surrealisten Rene´ Magritte. Dieser wollte mit seinem Porträt einer Pfeife – versehen mit dem Untertitel „Dies ist keine Pfeife“– auf den Unterschied zwischen Abbild und Wirklichkeit hinweisen.
Soll der Cannes-Slogan also Cineasten in spe davor warnen, TikTok-Videos mit „echten“Filmen zu verwechseln? Oder vielmehr vermitteln, dass TikTok längst das bessere Kino ist? Jedenfalls zeugt er davon, dass es auch für ein vermeintliches Bollwerk klassischer Filmkunst wie Cannes kein Vorbeikommen gibt am chinesischen Videoportal, das für Abermillionen – vornehmlich junge – Menschen weltweit zur Unterhaltungsplattform Nummer eins geworden ist. Daher hat sich das Festival, das sich zunehmend schwer tut, die Jugend für seine Marke zu begeistern, heuer zu einer offiziellen Partnerschaft mit dem Pekinger Unternehmen Bytedance durchgerungen. Dieses bemüht sich in letzter Zeit verstärkt um eine Anbindung an die Filmindustrie sowie an europäische Medienevents. Der globale Großerfolg des Marvel-Superheldenblockbusters „Spider-Man: No Way Home“(2021) gründet unter anderem auf einer von Sony und TikTok koordinierten Kampagne. Zuletzt klinkte sich die Firma beim Song Contest ein – und bei der Fußball-Europameisterschaft der Frauen.
Schminktipps für den Red Carpet. Nun also Cannes. Der Schulterschluss des Festivals mit Bytedance wirkt ebenso widersinnig wie vorprogrammiert. Einerseits sind TikTok-Videos so etwas wie das Gegenteil jener Filmkunst, deren Verteidigung sich das altgediente französische Festival stolz auf die Fahnen geschrieben hat. Cannes steht für Breitwand-Opulenz, ausladende Erzählungen, intensive Einfühlung im dunklen Saal. TikTok für knappe Cleverness im Hochformat, schnelle Effekte und Pointen, beiläufigen Laufbildkonsum zwischen Tür und Angel. Zugleich ist Cannes nicht nur Kino, sondern – und vielleicht sogar vor allem – ein überkandideltes Promi-Spektakel. Und als Instrument für Glamour-Injektionen ist TikTok unschlagbar.
Die Partnerschaft umfasst ein breites Programm. Influencer wurden zum Festival geladen, um live vom Schaulauf an der Croisette zu berichten. Parallel zum Event wird der Cannes-Kanal von TikTok mit allerlei Sonder-Content bespielt. Und selbstverständlich gab es auch einen zugehörigen Videowettbewerb, mit Geldpreisen in vier Kategorien. Stöbert man auf der Plattform unter dem Hashtag „|Cannes2022“, zeigt sich das Filmfest primär von seiner glitzernden Seite. Da beobachtet man Anne Hathaway hautnah beim Verlassen des Hoˆ tel Martinez. Oder sieht den aus dem Senegal stammenden TikTokStar Khaby Lame, wie er im Smoking mit zwei aufgeklebten Videoscreens eine Treppe herabflaniert.
Anderswo präsentieren professionelle Selbstdarsteller knallige Abendgarderobe zu süffiger oder ironischer Musikbegleitung. YouTuberin Nikkie de Jager gibt schnippische Schminktipps für den Red Carpet. Das Festival selbst zeigt unterdessen Ausschnitte aus den Wettbewerbsfilmen – oder bittet zum Rätselspiel „Erraten Sie den Regisseur“. Schließlich geht es hier immer noch um Cinephilie! Irgendwie.
Das Festival tut sich zunehmend schwer, die Jugend für sich zu begeistern.
Im Videowettbewerb haben Filme gesiegt, die tadellos sind, aber nicht fürs Kino gedacht.
Dass TikTok davon ein eher eigenwilliges Verständnis hat, zeigte sich bei einem Mini-Eklat im Zuge der Siegerfindung des Videowettbewerbs. Rithy Panh, ein Oscar-nominierter Essayfilmer – und Überlebender des kommunistischen Terrorregimes der Roten Khmer – wandte sich überraschend an das Branchenblatt „Hollywood Reporter“, um seinen Rücktritt als Jurypräsident zu verkünden. TikTok habe sich wiederholt in den Entscheidungsprozess der Juroren eingemischt und versucht, die Gewinner selbst auszuwählen – doch eine Jury sei kein „Algorithmus“. Nach Panhs J’accuse gab TikTok spornstreichs klein bei – und versicherte in einem gewohnt inhaltsleeren Statement, die Jury walten zu lassen.
Freitagabend wurden die Sieger prämiert. Der Hauptpreis ging ex aequo an eine Miniatur über einen japanischen Schreiner, der sich für Umweltschutz einsetzt. Und an ein nettes Dramolett über eine Liebesgeschichte, die sich per Papierflieger entspinnt. Diese kurzen Arbeiten sind handwerklich tadellos, humorvoll und originell. Was sie nicht sind und gar nicht sein können, sind Filme, die jemals in einem der Hauptbewerbe des Festivals laufen könnten – weil ihre abgehackte Form schlicht nicht fürs Kino gedacht ist. Der schale Beigeschmack einer reinen Marketing-Aktion bleibt also bestehen. Und das Plakat hatte recht.