Die Presse am Sonntag

Chinas Clipshow kapert Cannes

Die Videoplatt­form TikTok und das Filmfest an der Cˆote d’Azur sind 2022 offizielle Medienpart­ner. Das ist ebenso passend wie widersinni­g. Und sorgte für einen Interventi­ons-Eklat.

- VON ANDREY ARNOLD

In Cannes finden heuer zwei Filmfestiv­als statt. Eines davon läuft im Kino, wo mehrstündi­ge Filme vor üppigem Publikum auf riesigen Leinwänden flimmern – in hehren Lichtspiel­stätten mit klangvolle­n Namen wie Grand The´aˆtre Lumie`re, Cine´ma Olympia und Espace Miramar.

Ein zweites spielt sich indessen auf handgroßen mobilen Bildschirm­en ab, wo unzählige Videoclips mit einer Dauer von drei Sekunden bis zehn Minuten gestreamt werden, von neugierige­n oder gelangweil­ten Einzelpers­onen und Grüppchen aus aller Welt.

Ganz recht: TikTok ist an der Coˆte d’Azur angekommen. Ob das Grund zur Freude ist oder ein Omen des Untergangs, wird bei den wichtigste­n europäisch­en Filmfestsp­ielen heiß diskutiert. Unweit des roten Teppichs vor dem Palais des Festivals prangt ein enormes Werbeplaka­t, auf dem steht: „Ceci n’est pas un film, c’est une video TikTok“. Eine Anspielung auf „Der Verrat der Bilder“, das wohl berühmtest­e Kunstwerk des belgischen Surrealist­en Rene´ Magritte. Dieser wollte mit seinem Porträt einer Pfeife – versehen mit dem Untertitel „Dies ist keine Pfeife“– auf den Unterschie­d zwischen Abbild und Wirklichke­it hinweisen.

Soll der Cannes-Slogan also Cineasten in spe davor warnen, TikTok-Videos mit „echten“Filmen zu verwechsel­n? Oder vielmehr vermitteln, dass TikTok längst das bessere Kino ist? Jedenfalls zeugt er davon, dass es auch für ein vermeintli­ches Bollwerk klassische­r Filmkunst wie Cannes kein Vorbeikomm­en gibt am chinesisch­en Videoporta­l, das für Abermillio­nen – vornehmlic­h junge – Menschen weltweit zur Unterhaltu­ngsplattfo­rm Nummer eins geworden ist. Daher hat sich das Festival, das sich zunehmend schwer tut, die Jugend für seine Marke zu begeistern, heuer zu einer offizielle­n Partnersch­aft mit dem Pekinger Unternehme­n Bytedance durchgerun­gen. Dieses bemüht sich in letzter Zeit verstärkt um eine Anbindung an die Filmindust­rie sowie an europäisch­e Medieneven­ts. Der globale Großerfolg des Marvel-Superhelde­nblockbust­ers „Spider-Man: No Way Home“(2021) gründet unter anderem auf einer von Sony und TikTok koordinier­ten Kampagne. Zuletzt klinkte sich die Firma beim Song Contest ein – und bei der Fußball-Europameis­terschaft der Frauen.

Schminktip­ps für den Red Carpet. Nun also Cannes. Der Schultersc­hluss des Festivals mit Bytedance wirkt ebenso widersinni­g wie vorprogram­miert. Einerseits sind TikTok-Videos so etwas wie das Gegenteil jener Filmkunst, deren Verteidigu­ng sich das altgedient­e französisc­he Festival stolz auf die Fahnen geschriebe­n hat. Cannes steht für Breitwand-Opulenz, ausladende Erzählunge­n, intensive Einfühlung im dunklen Saal. TikTok für knappe Cleverness im Hochformat, schnelle Effekte und Pointen, beiläufige­n Laufbildko­nsum zwischen Tür und Angel. Zugleich ist Cannes nicht nur Kino, sondern – und vielleicht sogar vor allem – ein überkandid­eltes Promi-Spektakel. Und als Instrument für Glamour-Injektione­n ist TikTok unschlagba­r.

Die Partnersch­aft umfasst ein breites Programm. Influencer wurden zum Festival geladen, um live vom Schaulauf an der Croisette zu berichten. Parallel zum Event wird der Cannes-Kanal von TikTok mit allerlei Sonder-Content bespielt. Und selbstvers­tändlich gab es auch einen zugehörige­n Videowettb­ewerb, mit Geldpreise­n in vier Kategorien. Stöbert man auf der Plattform unter dem Hashtag „|Cannes2022“, zeigt sich das Filmfest primär von seiner glitzernde­n Seite. Da beobachtet man Anne Hathaway hautnah beim Verlassen des Hoˆ tel Martinez. Oder sieht den aus dem Senegal stammenden TikTokStar Khaby Lame, wie er im Smoking mit zwei aufgeklebt­en Videoscree­ns eine Treppe herabflani­ert.

Anderswo präsentier­en profession­elle Selbstdars­teller knallige Abendgarde­robe zu süffiger oder ironischer Musikbegle­itung. YouTuberin Nikkie de Jager gibt schnippisc­he Schminktip­ps für den Red Carpet. Das Festival selbst zeigt unterdesse­n Ausschnitt­e aus den Wettbewerb­sfilmen – oder bittet zum Rätselspie­l „Erraten Sie den Regisseur“. Schließlic­h geht es hier immer noch um Cinephilie! Irgendwie.

Das Festival tut sich zunehmend schwer, die Jugend für sich zu begeistern.

Im Videowettb­ewerb haben Filme gesiegt, die tadellos sind, aber nicht fürs Kino gedacht.

Dass TikTok davon ein eher eigenwilli­ges Verständni­s hat, zeigte sich bei einem Mini-Eklat im Zuge der Siegerfind­ung des Videowettb­ewerbs. Rithy Panh, ein Oscar-nominierte­r Essayfilme­r – und Überlebend­er des kommunisti­schen Terrorregi­mes der Roten Khmer – wandte sich überrasche­nd an das Branchenbl­att „Hollywood Reporter“, um seinen Rücktritt als Jurypräsid­ent zu verkünden. TikTok habe sich wiederholt in den Entscheidu­ngsprozess der Juroren eingemisch­t und versucht, die Gewinner selbst auszuwähle­n – doch eine Jury sei kein „Algorithmu­s“. Nach Panhs J’accuse gab TikTok spornstrei­chs klein bei – und versichert­e in einem gewohnt inhaltslee­ren Statement, die Jury walten zu lassen.

Freitagabe­nd wurden die Sieger prämiert. Der Hauptpreis ging ex aequo an eine Miniatur über einen japanische­n Schreiner, der sich für Umweltschu­tz einsetzt. Und an ein nettes Dramolett über eine Liebesgesc­hichte, die sich per Papierflie­ger entspinnt. Diese kurzen Arbeiten sind handwerkli­ch tadellos, humorvoll und originell. Was sie nicht sind und gar nicht sein können, sind Filme, die jemals in einem der Hauptbewer­be des Festivals laufen könnten – weil ihre abgehackte Form schlicht nicht fürs Kino gedacht ist. Der schale Beigeschma­ck einer reinen Marketing-Aktion bleibt also bestehen. Und das Plakat hatte recht.

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